Die Debatte, die mittlerweile auch von der „New York Times" aufgegriffen wurde, begann mit einem Artikel der Londoner Neurowissenschaftlerin Julia F. Christensen im renommierten Biologie-Fachblatt „Proceedings of the Royal Society B", in dem sie dazu aufforderte, sich mehr Kunst anzuschauen. Kunst, so Christensen, animiere den Betrachter auf andere Art als andere Genüsse. Und sei damit ein wirksames Gegengift gegen die ihrer Meinung nach vorherrschende Sucht nach schnellen „Dopamin-Schüssen". Marcos Nadal, Psychologe an der Balearen-Universität auf Mallorca widersprach. Es gebe keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass der Konsum von Kunst im Gehirn anders wirke als Sex, Bier trinken oder Fußball gucken.

Herr Nadal, was ist Genuss überhaupt, so rein wissenschaftlich?

Der Genuss ist ein sehr emotionaler Teil unseres Wesens. Zum einen enthält er das subjektive Empfinden, dass uns etwas angenehm ist. Zum anderen hat er neurobiologische Komponenten. Diese richten den Organismus auf Dinge aus, die zum Überleben wichtig sind, wie zum Beispiel das Essen, das Trinken oder die Fortpflanzung. Die Gehirnregion des Genusses ist evolutionsbiologisch sehr alt und sie ist verbunden mit anderen Regionen, etwa denen für taktiles Empfinden oder Geschmack. Deshalb ist es natürlich nicht der gleiche Genuss, wenn wir ein Bier trinken oder ein Gemälde anschauen, auch wenn die Genuss­region im Gehirn die gleiche ist.

Die Suche und der Genuss von Essen sichert das Überleben. Der Genuss von Kunst tut dies erst einmal nicht. Warum streben wir dennoch danach?

Wir haben in unserer Kultur das Glück, dass wir Dinge genießen können, die nicht mit unserem Überleben zusammenhängen. Wenn ich einen O-Saft trinke, dann mache ich das, weil es mir schmeckt, nicht weil es notwendig wäre. Wenn ich in ein Restaurant gehe, kann ich bestellen, was mir besonders Freude bereitet. Natürlich steckt hinter dem allen auch ein biologischer Drang - nur jetzt kommt der Aspekt von Spaß und Erholung dazu. Oder denken Sie daran, warum die meisten Menschen Sex haben. Das dient ja auch meistens nicht der Fortpflanzung. Und auch die Kunst erfüllt historisch eine Funktion: Sie diente der Identitätsbildung einer Gemeinschaft. Eine Gruppe Menschen, die enge soziale Verbindungen pflegt, ist bei Gefahr viel besser organisiert als eine, die das nicht hat. Die Kultur ist ein Faktor, der den Zusammenhalt fördert. Er schafft Rituale. Meine Oma und ihre Schwester haben etwa immer nach dem Essen zusammen gesungen oder Gedichte improvisiert. Sie wollten keine große Kunst damit schaffen, aber es war Teil ihrer Familienrituale. Das Bild im Museum ist eine institutionalisierte Form davon.

Inwiefern spielt die Autosugges­tion in der Kunst eine Rolle, gerade bei Kunstwerken oder Musikstücken, die als besonders hochwertig gelten?

Es kommt halt darauf an, mit welcher Erwartung man herangeht. Man kann sich die Realität da selbst kreieren. Beim Wein ist das genauso: Die Leute genießen ihn wirklich mehr, wenn sie denken, dass sie einen besonders edlen Tropfen trinken. Das menschliche Gehirn ist nicht darauf ausgerichtet, die Realität in ihrer Gesamtheit aufzunehmen und zu sammeln. Es ist darauf ausgerichtet, die Realität zu verstehen. Das ist ein elementarer Unterschied. Unsere Interpretation der Realität ist wichtiger als die Realität selbst.

Das heißt, wenn ich das Gefühl habe, zu genießen, genieße ich auch wirklich?

Genau. Und dieser Genuss ergibt sich aus der Verbindung aus der Erwartungshaltung und dem, was man vorfindet. Wie wenn man sich verliebt. Natürlich hat das mit der Person zu tun, aber ebenso mit dem, was wir uns selbst über die Person einreden. Und jemand anders sagt: Wie kannst du dich in diese Person verlieben? Weil die Interpretation der Person eine andere ist. Genauso ist es mit der Kunst: Wie kannst du diese Musik mögen? Wir verbinden etwas damit, was uns Genuss verschafft. Aber das ist nicht allgemeingültig.

Um den Genuss zu messen, den eine Person verspürt, seien mehrere Parameter notwendig, erklärt Nadal. So gebe es einerseits einen Fragebogen, in dem der Proband seine subjektive Wahrnehmung angibt. Zudem würde man Herzschlag, Transpiration und die Reaktion der Gesichtsmuskeln messen. Zudem werden die Gehirnströme überwacht. Unter anderem hat Marcos Nadal mit Besuchern des Kulturzentrums CCA in Andratx gearbeitet.

Welche Rolle spielt die Gesellschaft?

Wir entstammen der Welt, in der wir aufwachsen. Das geht beim Essen los und bei den Normen. Und das wirkt sich natürlich auch auf die Kultur aus. Das, was wir kennen, scheint uns meist näher und hat eine größere Chance, von uns gemocht zu werden. Es gibt relativ wenige Menschen, die etwa ständig auf der Suche nach neuer Musik sind.

Im Englischen gibt es das Konzept der „guilty pleasure", also dem heimlichen Genuss von etwas, was man aus verschiedenen Gründen nicht genießen sollte.

In dem Fall trägt dieser Aspekt der Heimlichkeit dazu bei, dass der Genuss noch größer ist.

Wie verhält es sich mit dem Genuss in restriktiven Gesellschaften, etwa im erzkatholischen Spanien von vor einigen Jahrzehnten?

Da kann ich nur spekulieren. Im Grunde führen restriktive Gesellschaften dazu, dass sich die Menschen die Genüsse über Umwege suchen müssen. Denn der Drang nach Genuss wird ja nicht ausgeschaltet. Aber das ist ein Thema, das man durchaus wissenschaftlich untersuchen könnte.

Was ist notwendig, damit man ein Kunstwerk genießt?

Jeder, der Kunst mag, weiß, dass man sie suchen muss. Man muss sie aktiv wahrnehmen und interpretieren -

und das schafft den Genuss. Es ist ein Zusammenspiel zwischen dem Kunstwerk an sich, der Person, die es wahrnimmt und dem Kontext, in dem das passiert.

Wie wirkt sich der Inhalt eines Werkes auf den Genuss aus? Verschafft etwa ein Film, der von Genuss handelt und entsprechende Szenen enthält, mehr Genuss, als einer der eher sachlich ist?

Nein. Sonst hätten Tragödien oder auch traurige Lieder nicht den Erfolg, den sie haben. Tatsächlich wird gerade erforscht, wie es zu dieser Diskrepanz kommen kann, dass etwas Negatives oder Trauriges der Quell unseres Genusses sein kann.

Mir fällt da eine Zeile der US-Band Bright Eyes ein: „The pleasure that my sadness brings" (Der Genuss, der meiner Traurigkeit entstammt).

Die Musik ist tatsächlich die Kunstrichtung, in der am besten untersucht ist, wie sie sich auf Wahrnehmung und Genuss auswirkt. Hier kommt der Aspekt der Antizipation ins Spiel, der ein elementarer Aspekt der Genusserfahrung ist. Musik entwickelt sich über einen gewissen Zeitraum. Zudem hat sie Elemente, die sich wiederholen, etwa Strophen und Refrains. Das erlaubt eine Antizipation. Der Komponist kann mit dieser Erwartungshaltung spielen. Er kann sie entweder befriedigen oder uns überraschen. Das verschafft unglaublich viel Genuss. Deshalb läuft es uns bei Musik eiskalt über den Rücken. Das hat mit der Auflösung unserer Erwartungshaltung zu tun. Ähnliches gibt es natürlich auch in Filmen und Büchern.

Wo ist die Linie zwischen Genuss und Gewohnheit oder Betäubung?

Letzteres ist die Folge von ersterem. Etwas, was als Genuss anfängt, wie das Feierabendbier, wird irgendwann zu einer Gewohnheit, die eher dazu da ist, Unbehagen zu vermeiden, als Genuss zu schaffen.

Wie wirkt sich das Überangebot an kulturellen Genussmöglichkeiten, sei es Kunst, Musik, Filme auf die Wahrnehmung von Genuss aus?

Die Antizipation wird reduziert. Dieses Gefühl der Vorfreude, wenn wir auf etwas Tolles warten müssen, wird gemindert.

Kann die Jagd nach immer neuen Genusshöhepunkten dazu führen, dass wir nicht mehr genießen?

Auf jeden Fall. Und es wäre sehr wichtig, dass wir uns aktiv mit dem Lernen von Genuss auseinandersetzen. Denn irgendwie gehen wir davon aus, dass wir das im Laufe der Zeit schon hinkriegen. Aber viele Menschen tun das nicht. Am Anfang des Interviews sagte ich, dass der Genuss von Essen elementar ist. Aber die Fettleibigkeit ist ein Exzess davon. Genauso verhält es sich mit allen anderen Genüssen. Das richtige Maß zu finden, ist elementar, damit der Genuss sich nicht ins Gegenteil umkehrt.