Da liegt er auf dem dicken Teppich, Felipe Bernadotte, er schwitzt und muffelt, der Diener bringt ihm einen Drink nach dem anderen, dabei ist es noch am frühen Nachmittag. Von den Wänden des vornehmen Clubs in La Laguna herab blicken ihn seine in Öl gemalten Vorfahren streng an. Die Bernadottes waren einst die Konquistadoren, die Eroberer, der Kanaren­insel Teneriffa, sie waren immer an den Schaltstellen der Macht, sie vertrugen sich mit Königen, Militärs und Diktatoren, mit Unternehmern und Politikern. Doch Felipe, der gescheiterte, resignierte Historiker, der immer aufbegehrt hat gegen diese erdrückende Familiengeschichte, er lässt sich gehen, ihm sind nur Zynismus und der Alkohol geblieben. Kann man den Seinen denn nicht entkommen? Wieso wird man diese Dämonen nicht los!?

Dies ist eine der Schlüsselszenen in Inger-Maria Mahlkes bemerkenswerten Roman „Archipel", der am Montag (8.10.) den Deutschen Buchpreis gewann. Drei Familien, drei gesellschaftliche Schichten, drei miteinander verwobene Handlungsstränge und die jüngere Geschichte Spaniens in einem Brennglas - Mahlke, Jahrgang 1977 und bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet, hat einen fulminanten Plot, ein scharfsinniges Sittengemälde entwickelt. Interessant dabei: Sie erzählt die Geschichte der Bernadottes, der Bautes und der Ruiz Pérez' vom Ende her. Das Buch beginnt in der Gegenwart, im Jahr 2015, und endet 1919. Eine gewagter, ungewöhnlicher Ansatz, werden die handelnden Personen doch immer jünger, entwickeln sich rückwärts. Doch Mahlke meistert dies, ohne dass die Neugier der ­Leser erlahmt. Im Gegenteil.

Die Gegenwart meint es nicht gut mit der Familie von Felipe. Seine Tochter Rosa hat gerade ihr Kunststudium in Madrid abgebrochen, sie ist Teil jener verlorenen Generation junger Spanier in Zeiten der Wirtschaftskrise. Felipes Frau Ana Baute Marrero, die konservative Politikerin, steht ebenfalls für eine Generation: die der Schamlosen und Korrupten, die diese Krise mit zu verantworten haben. Als die Presse Subventionsbetrug bei einem touristischen Großprojekt aufdeckt und ein Vertrauter bei einem mysteriösen Unfall stirbt, gerät sie unter Druck. Von ihrer Familie wird sie alleingelassen, ihre Haushaltshilfe Eulalia ­Morales Ruiz kündigt ihr die Loyalität, und auch ihr Vater Julio Baute Ramos hat sich schon lange von ihr abgewandt.

Dieser Julio, der 1919 geboren ist, ein Elektrogeschäft hatte und der nun, alt und dennoch nicht zu alt, als Pförtner in einem

Altenheim arbeitet, ist der eigentliche Protagonist von „Archipel", derjenige, dessen Leben auf den 432 Seiten komplett abgedeckt wird. In seiner Loge sieht er sich ein Radrennen nach dem anderen an. Erst später im Buch erfahren wir warum. Julio war im spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) auf dem Festland Radkurier für die unterlegenen Republikaner, zuvor saß er im Kerker der Aufständischen um General Franco, der Militärgouverneur der kanarischen Inseln war und von dort die Revolte gegen die gewählte Republik anzettelte. Julios Bruder, auch das erfährt man erst spät, wurde von Francos Schergen im Gefängnis zu Tode gefoltert und in irgendeinem barranco, einer Schlucht, verscharrt.

Inger-Maria Mahlke, auf Teneriffa und in Lübeck aufgewachsen, lässt souverän die spanische Geschichte Revue passieren und verquickt sie mit den Schicksalen ihrer Roman­figuren. Von der sozialen Krise der Gegenwart geht es zurück zu dem versuchten Militärputsch von 1981, den Anfängen der Demokratie und Francos Tod 1975 weiter zu Diktatur, Bürgerkrieg und den Kolonialkriegen in Westafrika. Dabei setzt sie von ihren Leserinnen und Lesern sehr viel voraus an Wissen darum - und auch an Sprachkompetenz. Immer wieder werden spanische Worte wie etwa die merienda, die Zwischenmahlzeit am Nachmittag, der duro, das Fünf-Peseta-Stück, oder chubasco, der auf den Kanaren so typische Niesel­regen, wie selbstverständlich eingeflochten.

Mahlke, die in ihren früheren Werken einen gnadenlosen Blick auf die gegen­wärtige Großstadt warf („Rechnung offen") oder das Leben einer rebellischen Frau im England des 16. Jahrhunderts nachzeichnete („Wie ihr wollt"), ist eine gute, unterhaltsame Erzählerin. Sie beschreibt detailliert diese Insel zwischen Europa und den Kolonien: die Vulkane, Drachenbäume und Kakteen, die Obstplantagen, die Traditionen und Alltagsroutinen der Bewohner Teneriffas. Ihre Sprache ist dabei nicht blumig, sondern manchmal sogar spröde und verkürzt. Bewusst lässt sie Lücken und lose Enden, belässt es bei Andeutungen - und schafft so Raum für die Imagination. Wie genau starb

Felipes Bruder, der homosexuelle Offiziersanwärter José Antonio in jener Putschnacht 1981? Wer sind die Väter von Eulalia und ihrer in die Heroinsucht abgleitende Schwester Mercedes Morales Ruiz? Und welche Rolle spielte der englische Geschäftsmann Sidney Fellows? War er mehr als nur ein väterlicher Freund von Felipes Großmutter Ada?

Und es bleibt die Frage: Hätte es auch anders kommen können für die Familienmitglieder? Inger-Maria Mahlke zeigt auf, wie gefangen man in der eigenen Biografie ist. Aber auch, dass dies nichts entschuldigt, dass es immer andere Möglichkeiten gegeben hätte. Was selbstverständlich nicht nur für Familien auf Teneriffa gilt.