Hinweis: Der Artikel ist erstmals im Januar 2019 erschienen.

„Weltsensation auf Mallorca, titelte die MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca" am Samstag, dem 24. April 1971. Was war passiert? Tags zuvor waren der Ex-Beatle und seine Frau Yoko Ono von ihrem Hotel in Palma nach Cales de Mallorca gefahren. Dort lebte Onos siebenjährige Tochter Kyoko seit einigen Monaten mit ihrem Vater Anthony Cox, dem geschiedenen Ehemann der japanischen Künstlerin. Der Vater hatte das Sorgerecht.

Das berühmte Paar holte das Mädchen im Kindergarten ab und fuhr mit ihm nach Palma de Mallorca. Stunden später erschien die Polizei im Hotel Melià Mallorca. Cox hatte eine Anzeige wegen Entführung gestellt. Noch am Abend trafen sich Cox und die Lennons vor Gericht. Wenig später nahm Cox seine Tochter wieder mit in den Inselosten. Die Anzeige wegen Entführung hatte er zurückgezogen. Am Tag darauf verließen Lennon und Ono Mallorca.

Diese kleine, sicherlich schlagzeilenträchtige Anekdote steht im Mittelpunkt von „Kyoko", einem 21-minütigen Dokumentarfilm der mallorquinischen Filmemacher Marcos Cabotá und Joan Bover. „Kyoko" ist für den spanischen Filmpreis Goya als beste Kurz-Dokumentation nominiert.

Kein Verbrecher

In dem Film berichten mehrere Zeitzeugen von den Ereignissen an jenem Freitag. Unter anderen der Radio-DJ, der das Paar zusammen mit einem Vertreter der Plattenfirma am Flughafen abholte. Die Dame an der Rezep­tion, die Lennon und Ono eincheckte. Der Fotograf Joan „Torelló" Llompart - die „Diario de Mallorca"-Legende schoss als Einziger Bilder vom Gerichtstermin.

„Wir hatten zufällig von der Geschichte gehört und festgestellt, dass kaum jemand sich daran erinnerte", lassen sich Marcos Cabotá und Joan Bover in „El País" zu ihren Beweggründen zitieren. „Wir sind beide Fans von John Lennon und stellen ihn nicht als Verbrecher dar. Im Gegenteil, er ist ein Opfer seiner bedingungslosen Liebe."

Viel Material, wenig dahinter

Die beiden Filmemacher greifen auf viel sehenswertes historisches Bildmaterial zurück. Aber da hört es an positiven Aspekten des Films schon auf. Denn was Bover und Cabotá präsentieren, ist äußerst dünn. Das liegt zum einen an der Geschichte. Zwar ist ein Fall von Kindesentführung nie banal, und der Promi-Faktor steigert die Schaulust. Bei Licht betrachtet aber ist in den 14 Stunden zwischen der Abholung des Kindes bis zur Wiedergabe nach der Gerichtsverhandlung nicht besonders viel passiert.

Und das merkt man der Erzählstruktur an. Eine ganze Minute, also knapp fünf Prozent der Erzählzeit, verwenden Bover und Cabotá auf die Beschreibung der völlig ereignislosen Abholung am Flughafen und des Eincheckens im Hotel. Zudem reichern sie den Film mit kontextlosen Aufnahmen einer jungen Asiatin an, die - das erfährt man erst gegen Ende in einer Bauchbinde - offenbar Beatles-Memorabilia sammelt. Dass wichtige Fragen - etwa: Hat sich im Kindergarten niemand gewundert, dass ein Kind früh morgens ohne Ankündigung von einem der berühmtesten Menschen der Welt abgeholt wird? - nicht beantwortet werden, ist da nur noch anekdotisch.

Die wahre Kindesentführung

Vor allem aber ist die Episode um die Entführung auf Mallorca der wohl unspektakulärste Teil der Biografie von von Kyoko Chan Cox. Die Geschichte der heute 55-Jährigen beginnt hier gewissermaßen erst. Wenige Wochen nach dem Gerichtstermin verließ Kyoko mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter Melinda Kendall die Insel in Richtung USA. Kurz vor Weihnachten desselben Jahres entschied ein Gericht in Houston (Texas), dass Yoko Ono das Recht habe, ihre Tochter zu sehen. Anthony Cox beschloss daraufhin, diesmal selbst seine Tochter zu entführen: Die Familie setzte sich heimlich ab und zog in einen anderen US-Bundesstaat, nach Kalifornien.

Dort geriet sie in die Fänge der Sekte Church Of The Living Word, auch „The Walk" genannt, unter der Leitung eines charismatischen Anführers namens John Robert Stevens. Er beorderte die Familie im März 1972 nach Iowa, wie Anthony Cox 1986 in der Doku „Vain Glory" selbst erzählt. Weniger als ein Jahr nach dem Gerichtstermin auf Mallorca lebte Kyoko in einer Amish-Gemeinde im Norden der USA. Dort verrichtete die Familie harte Arbeit und betete für die Ermordung David Rockefellers und Jimmy Carters. Alle Versuche der Lennons, sie zu finden, scheiterten.

"Du musst dich nicht schuldig fühlen"

1977 verließen Kyoko und Anthony die Sekte, mieden aber - auch aus Sicherheitsgründen - die Öffentlichkeit. Als ein Geisteskranker, David Chapman, John Lennon 1980 erschoss, schickten sie Ono ihr Beileid. Als 1986 „Vain Glory" über Anthony Cox' Erfahrungen in der Sekte erschien, schrieb Ono einen öffentlichen Brief an ihre Tochter. Sie würde sich über ein Wiedersehen freuen, aber respektiere den Wunsch auf Privatsphäre, hieß es darin. „Du musst dich nicht schuldig fühlen, solltest du mich nie kontaktieren", schrieb Ono. 1994, Kyoko war selbst Mutter geworden, ging sie auf das Angebot ein. Seitdem, so heißt es, hätten sie engen Kontakt.

Das alles aber erzählt der Film „Kyoko" nicht. Im Abspann findet sich lediglich der Satz, Lennon und Ono hätten Kyoko niemals gefunden. Dieser Dokumentarfilm ist eine verpasste Chance. Statt das Leben eines ­Kindes im Schatten von Ruhm und Religionswahn zu erzählen, zeigt er ein paar Mallor­quiner, die vor knapp 48 Jahren zufällig John Lennon über den Weg liefen.