Ein kleiner Schönheitsfehler wird „La Balanguera" begleiten: Als die Abgeordneten des Inselrats von Mallorca am 4. November 1996 darüber entschieden, ob das Lied offiziell zur Hymne der Insel erkoren werden sollte, gab es kein einstimmiges Ergebnis. Während Regionalisten, Sozialisten und Linksparteien dafür stimmten, enthielt sich die konservative PP.

Nicht, dass die Kritiker nicht die lange Verwurzelung des Liedes in der mallorquinischen Gesellschaft anerkannt hätten.Der Dichter Joan Alcover hatte den Text schließlich schon um 1903 geschrieben, der Katalane Amadeu Vives fügte 1926 die Melodie hinzu. Auch die Schönheit des Liedes wollte niemand in Absprache stellen. Vielmehr stellten die Kritiker die Frage in den Raum, ob es wirklich das beste Lied für eine Hymne sei. Inoffiziell schlugen sie „Pàtria" (Heimat) von Jaume Sureda als Alternative vor. Darin wird die Schönheit der Insel besungen. Immerhin: Als die Abstimmung vorbei war, klatschten auch einige PP-Abgeordnete, die sich enthalten hatten.

In einem Punkt hatten die Kritiker recht: „La Balanguera" ist keine gewöhnliche Hymne. Zumindest, was den Text angeht. Musikalisch enthält sie durchaus die triumphalen Merkmale, die für repräsentative Lieder typisch sind. Der Pianist Joan Moll, Bruder der kürzlich verstorbenen Philologin Aina Moll, schrieb 1996 im Zuge der Debatte um die mögliche Hymne ein Plädoyer in der MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca". Darin ging er auch darauf ein, wie die Melodie immer wieder aufsteigt, kleine Schritte zurück macht, um dann wieder in neue Höhen aufzusteigen. „Sie erlaubt es uns nicht, uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen", schrieb Moll und setzte die Qualität der Komposition auf eine Höhe mit dem deutschen Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht".

„La Balanguera" hat nichts von den kriegstreiberischen, nationalistischen oder blutrünstigen Tönen anderer Hymnen. Der Dichter Joan Alcover hatte in den Jahren, bevor er das Gedicht schrieb, zwei Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Erst starb seine Frau im Jahr 1897, vier Jahre später seine kleine Tochter. Das schlug sich in seinem Werk nieder, er wechselte vom Spanischen ins Katalanische, machte sich auf Sinnsuche. Mit der Figur der Balanguera griff er auf ein Fabelwesen zurück, das sowohl in einem volkstümlichen Lied als auch in einem Kinderspiel auf der Insel vorkommt. Die Herkunft des Begriffes ist nicht eindeutig geklärt. Es könnte sich um die Verballhornung des Vornamens Berenguera oder auch um eine Abwandlung der französischen boulangère (Bäckerin) handeln.

Der Liedtext beschreibt, wie diese mysteriöse Balanguera immerfort aus unserem Leben Fäden spinnt. Sie ist die Hüterin der Vergangenheit und die Garantin für die Zukunft. Den Blick nach hinten gerichtet, heißt es, erspähe sie die Schatten der Herkunft, und sie wisse, wo sich der Keim des neuen Frühlings versteckt. (Girant l'ullada cap enrera/ guaita les ombres de l'avior/ i de la nova primavera/ sap on s'amaga la llavor).

Der Refrain lautet: „La Balanguera fila, fila/ la Balanguera filarà" (Die Balanguera spinnt und spinnt/ die Balanguera spinnt immerfort). Diese zentrale Zeile hat Alcover direkt dem volkstümlichen Lied entnommen. Joan Moll schreibt in seinem Essay im „Diario de Mallorca": „Die geheimnisvolle Balanguera repräsentiert die kollektive Identität, die Nation, die Heimat, das Volk - eine Realität, die uns übersteigt, die schon immer da war und uns überleben wird. Sie erinnert uns daran, dass wir verantwortlich für unser Land sind."

Das Lied war lange Zeit Teil des Liedguts auf der Insel. Häufig heißt es, es sei während der Franco-Diktatur verboten worden. Allerdings deuten Festprogramme aus jener Zeit darauf hin, dass das „La Balanguera" auch zu offiziellen Anlässen erklang. Es war die bekannte mallorquinische Sängerin Maria del Mar Bonet, die dem Lied zu größerer Popularität verhalf. 1981 nahm sie es für das Album „Jardí tancat" auf. Bis heute ist es eines der erfolgreichsten Lieder ihrer Karriere.

In den vergangenen Jahrzehnten - vor allem seit es zur Hymne erklärt worden war -ist „La Balanguera" von sehr unterschiedlichen Künstlern, meistens Frauen, interpretiert worden. Folksängerinnen wie Marta Elka versuchten sich ebenso an dem Lied wie die Popsängerin Chenoa. Joan Moll berichtet 1996, ein russischer Chor habe das Lied für eine Zugabe im Auditorium gelernt und sei von ihm verzaubert worden.

Mittlerweile ist es zur Normalität geworden, dass „La Balanguera" zu offiziellen Anlässen erklingt. Sogar, als vergangenes Jahr im Trui Teatre um einen balearischen Boxtitel gekämpft wurde, hielten die Boxer im Ring inne, um den poetischen Zeilen Alcovers zu lauschen. Offiziell ist es nur die Hymne Mallorcas. In Ermangelung von Alternativen gilt das Lied mittlerweile aber auch als Hymne der gesamten Balearen.