Auf ihren Bildern haben die Frauen keine Augen, sondern blutige, schwarze Flecken. Sie male das so, seit sie sich einmal beim Weinen im Spiegel betrachtet habe, sagt Zahraa Kareem. Die Mascara sei unter ihren Augen verlaufen. „Man kann Menschen durch ihre Augen lesen. Aber ich male symbolisch. Du kannst mich nicht lesen. Du weißt nicht, wie ich mich gerade auf diesem Bild fühle", sagt die Künstlerin, die schon zwei Kriege hinter sich hat und mehrere Flüchtlingslager. Sie verarbeitet diese Erfahrungen so eindrücklich, dass sie schon damit begonnen hat, international auszustellen. Dabei ist sie gerade mal 19 Jahre alt.

Zahraa Kareem kam im Jahr 2000 als Jüngste von fünf Geschwistern in einer Mittelschicht-Familie in Bagdad zur Welt. Als sie vier Jahre alt war, floh die Familie 2004 vor den bürgerkriegsähnlichen Wirren nach der Besetzung Iraks durch die USA und ihrer Verbündeten in den Jemen, wo sie auf eine internationale Schule ging. „Wir lebten gut dort, hatten alles, was wir brauchten. Ich hatte meine Kleidung und mein eigenes Zimmer - wertgeschätzt habe ich das alles erst, als ich es verlor", sagt Zahraa Kareem. Das war 2015. Auch im Jemen war der Krieg ausgebrochen, 2015 legte ein Bombenangriff die Wohnung der Familie in Schutt und Asche.

Erneute Flucht

Zahraa Kareems Leben änderte sich schlagartig. „Auch weil ich damit begann, in mich aufzunehmen, was geschah. In einer künstlerischen Weise, als Künstlerin", sagt sie. Die Familie zog zurück in den Irak. „Es war schrecklich. Ich war nicht frei in meinem eigenen Land. Als die Entführungen zunahmen, beschloss meine Familie ein Jahr später, das Land wieder zu verlassen." Sie wollten nach Schweden, wo Zahraas beide Brüder bereits lebten.

2016 flogen ihre Mutter, ihre Schwester, deren Ehemann und zwei Kinder sowie Zahraa in die Türkei. Ihr nierenkranker Vater und ihre schwangere Schwester blieben im Irak zurück. „Sie wollte nicht das Leben ihres Kindes gefährden, und mein Vater konnte nicht gut laufen. Es war hart, sie zurückzulassen. Aber wir mussten es tun", sagt sie.

"Sonst seid ihr tot"

Drei Versuche unternahm die Familie, um mit dem Boot von der Türkei nach Griechenland überzusetzen, drei Mal musste sie dafür zu Fuß ein Küstengebirge überqueren, mitten in der Nacht. „Plötzlich wusste ich, wie es sich anfühlt, verloren zu sein. Im Nirgendwo. Der Wald war dunkel und unheimlich. So viele Menschen, die laufen. Weinende Kinder. Taschen. Es war kalt. Der Himmel hatte ein kaltes Blau", erinnert sich Zahraa Kareem.

Am Ufer warteten die Schlepper mit dem Boot. Zahraa Kareem kann sich noch ganz ­genau an den ersten Versuch erinnern. Sie hat ein Bild des Schleppers gemalt. „Er nahm die Leute und warf sie in das Boot. Wie Müll, wie Objekte. Er nahm Kinder und warf sie in das Boot. Er nahm meine Mutter und warf sie in das Boot. Ich stand nur da und schaute zu, schaute ihn an und nahm es in mich auf. Du bist hilflos. Du musst einfach den Mund halten. Würde es heute noch einmal geschehen, würde ich ­etwas unternehmen." Dann sei die Polizei aufgetaucht. „Sie rief uns zu: ,Dreht ­sofort um, sonst kippen wir das Boot um, und ihr seid tot.'"

Monatelang im Zelt

Beim zweiten Versuch war das Boot so überlastet, dass die Familie, aus Angst zu ertrinken, wieder an Land ging. Erst beim dritten Mal gelang die Flucht. Auf dem Meer waren die 70 Geflüchteten in einem nur für 40 Personen gedachten Boot auf sich allein gestellt. „Fünf bis sechs Stunden waren wir unterwegs. Jede Minute fühlte sich wie ein Jahr an", sagt Zahraa Kareem. Als eine Hilfsorganisation das Boot im Meer ausmachte, war es schon voller ­Wasser und drohte zu sinken.

Von Griechenland ging es weiter bis zur Grenze zu Mazedonien, wo die Familie monatelang in einem Zwei-Mann-Zelt ausharrte. Ihr Onkel schlief vor dem Zelt. Meist gab es nur ein Stück Brot zu essen. Schließlich stand die Familie kurz davor, die Grenze überqueren zu dürfen: „Wir hatten die Nummer 21, die Grenze wurde nach Nummer 19 geschlossen. Wir hatten einen Nervenzusammenbruch, wussten nicht, wohin." Letztlich nahm das Refugee Relocation System der EU die Kareems auf. Das Flüchtlingsprogramm vermittelte ihre Schwester und deren Familie nach Frankreich, Zahraa und ihre Mutter im Dezember 2017 nach Mallorca. „Wir wussten gar nicht, wo das ist. Es war so klein auf der Karte, so weit weg von unserer Familie."

Kunst ist Freiheit

Auf der Insel kümmerte sich das Rote Kreuz um die Familie. Zahraa Kareem, die wegen Flucht und Krieg jahrelang nicht zur Schule hatte gehen können, erhielt ein Stipendium für das Palma College, einer kleinen britischen Privatschule, die A-Grade-Abschlüsse für Jugendliche ab 16 anbietet. „Ich merkte sofort, dass sie etwas Besonderes ist, sehr fokussiert, sehr leidenschaftlich und ungeheuer wissbegierig", sagt die Direktorin Jill Witkamp.

Zahraa Kareem hatte schon zuvor gezeichnet, aber im Kunstleistungskurs von Laurie Pearsall eröffnete sich ihr eine Welt. „Die freie Welt der Kunst", sagt Zahraa Kareem, „wenn ich male, dann fühle ich mich frei, frei von innen heraus." Und Laurie Pearsall ergänzt: „Für Zahraa ist Kunst die Freiheit, Dinge zu kommunizieren, über die man nur schwer reden kann. Die Kunst macht sie stark."

Die Frau auf ihren Bildern sei sie selbst, sagt Zahraa Kareem, wobei sie damit das Leid anderer Frauen darstelle, ihnen eine Stimme gebe. Das sind Frauen, die ihr auf der Flucht begegneten, wie jene in Griechenland, die mehrmals von einem Schlepper vergewaltigt worden war. Oder jene andere, die ihr während ihrer Zeit im Flüchtlingslager an der griechischen Grenze eine Dusche ermöglichte. „Niemand ließ uns rein, außer ihr. Es war die erste Dusche seit Monaten. Eine kalte Dusche. Es war egal, es war unglaublich. Ich bin ihr unendlich dankbar."

"Ich kann nicht ausbrechen"

Ihre Bilderserie „Trying To" (Versuchen) beginnt mit einer knienden Frau vor rotem Hintergrund, die ihren Arm nach einer blauen Tür ausstreckt. Auf dem zweiten Bild ist nur ein Frauenkopf über einem blauen Würfel zu sehen. Im dritten kniet eine Frau vor blauem Hintergrund und erbricht Blut. „Die Serie thematisiert Frauen, die versuchen auszubrechen. Doch sie werden aufgehalten. Wer hält sie auf? Es könnte die Gesellschaft sein, die Kultur, sie selbst, ich", erklärt Zahraa Kareem und zeigt auf den blauen Würfel. „Sie sollen in die Box gehen. Und hier bin ich in der Box. Ich kann nicht ausbrechen. Ich akzeptiere es und erbreche Schmerz."

Sie hasse es, wie Frauen im arabischen Raum mitunter behandelt werden, fordert Grundrechte, Respekt, eine Stimme. Die Frauen in ihren Bildern, das sind auch die muslimischen Frauen, die in Palma, Rom oder Berlin zwischen patriarchalischen Traditionen und Familienstrukturen und der vermeintlichen Freiheit um sie herum hin- und hergerissen sind. Wie auch sie selbst: „Ich respektiere meine Familie, und ich werde mich niemals gegen sie wenden. Es ist nur ... die Art und Weise, wie sie früher lebten und wie wir jetzt leben, sie ist so unterschiedlich €"

Internationale Beziehungen

Zweimal hat Zahraa Kareem bereits ausgestellt. Im vergangenen Februar in der Miscelanea Gallery in Barcelona und im Juni in Italien auf dem Crack Festival in Rom, wo sie ihr Buch „Black Sheep" (Schwarzes Schaf) präsentierte. Bei der Auswahl der Bilder dafür hatte ihr der mallorquinische Illustrator Carles García O'Dowd geholfen, den sie über einen Freund kennengelernt hatte. „Ohne Carles würde dieses Buch nicht existieren. Er ist einer der Personen, die mich am meisten bei meiner Kunst unterstützt haben." Weitere Ausstellungen in Italien sind schon geplant, und auch Deutschland würde sie reizen, sagt sie.

Zahraa Kareem ist ehrgeizig, will eine „sehr erfolgreiche Frau" werden. Erst die Bildung würde es ihr ermöglichen, sich „hundertprozentig frei zu fühlen", sagt sie. Sie will nicht Kunst studieren, sondern Internationale Beziehungen, Politik, Menschenrechte. Um ihre Ideen, Meinungen, Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Und um zu beweisen, dass eine Frau mit Kopftuch entgegen vieler Vorurteile eine gebildete und weltoffene Frau sein kann. „Ich will zeigen, was irakische Frauen wert sind, dass sie es schaffen können", sagt Zahraa Kareem.

Die Kunst aber, die wolle sie auf jeden Fall beibehalten: „Es gibt Menschen, die verstehen die Dinge durch Kommunikation, und es gibt welche, die verstehen sie durch Kunst. Kunst spricht für sich selbst. Deshalb male ich erschreckende Bilder."