Das Verrückte ist, dass Joan Massanets Plan aufging. 2015 hatte der Mallorquiner zusammen mit einer Reiseagentur eine Kampagne gestartet. In der Annahme, dass jeder Mallorquiner unfreiwillig auf Tausenden Urlaubsfotos zu sehen sein muss, stellte er in mehreren Reisebüros Bilder von sich aus verschiedenen Jahren aus. Die Bitte an die Urlauber: „Schauen Sie in Ihren alten Fotoalben, ob Sie mich entdecken." Und tatsächlich. Drei Menschen meldeten sich zurück, schickten Bilder ein, auf denen er im Hintergrund zu sehen ist. Zwei Familien aus England und eine Frau aus Köln. Massanet stellte die Fotos 2016 in Originalgröße in der Galerie Kewenig in Palma aus. Die Ausstellung war ein Riesenerfolg.

Es ist eine der zentralen Geschichten in „Temporada alta" (Hochsaison), dem neuen Essay-Buch des Literaturkritikers und Kolumnisten der konservativen Zeitung „El Mundo" Josep Maria Nadal Suau. Sie hat einen

Haken: Es gibt keinen Joan Massanet. So wahrhaftig wie die Geschichte beim ersten Lesen erscheint, beweist sie jedoch zwei Dinge: Nadal Suau ist ein talentierter Autor. Und er ist bereit, unkonventionelle Wege zu gehen.

Eine Statue in der Stadt

Nadal Suau erzählt aus seiner persönlichen Perspektive eines Palmesaners, Jahrgang 1980, der immer weniger die Stadt seiner Kindheit wiedererkennt. Er beginnt das Buch in der Nähe des Almudaina-Palastes, erklärt wie die Miró-Statue „Femme, Monument" (die Statue mit dem Loch, da wo die Pferde-kutschen warten) praktisch im Moment ihrer Einweihung von feixenden Urlaubern und Einheimischen in Beschlag genommen wird.

Der Autor ist ein kundiger Flaneur durch die eigene Stadt. An der Plaça de la Reina vorbei geht er auf Spurensuche durch Straßen, die ihn die städtebaulichen und gesellschaftlicher Konflikte der Stadt nachzeichnen lassen. Da ist der Borne, der aussähe wie das Oberdeck des Kreuzfahrtschiffs „Oasis Of The Seas". Da sind aber auch die Viertel, die gerade gentrifiziert werden, und die, auf die diese Entwicklung noch wartet. Wer hat weniger Respekt vor einem Stadtteil, fragt sich Nadal Suau an einer Stelle: Jener, der die Wände mit Graffitis voll schmiert oder jener, der ein Luxushotel baut, wo nebenan Straßennutten stehen?

So zeigt der Kolumnist die Parallelwelten auf, die sich immer noch in Palma finden lassen, etwa: „Man steigt aus der U-Bahn und sieht zwölf Schafe auf einer Wiese." Oder: „Ein Gefängniskomplex, 300 Meter Luftlinie von einem Einkaufszentrum entfernt." Oder auch: „Fünf Deutsche in Lederhosen beobachten mit einem Bierkrug in der Hand die Osterprozessionen."

Nadal Suau teilt den Tourismus in drei Phasen auf, erklärt, wie die Playa de Palma für seinen Vater aussah, wie das Palma seiner eigenen Kindheit und Jugend war und wie nach der Wirtschaftskrise Airbnb mit zerstörerischer Wucht einzog. Es sind packende, pulsierende Seiten voller Leidenschaft.

Son Banya und London

Son BanyaDoch dann flacht das Buch plötzlich ab. Nadal Suau erzählt einen seitenlangen Witz mit schwacher Pointe, bei dem man große Sprünge machen muss, um einen Zusammenhang zum Thema des Buches festzustellen. Danach ergießt er sich in mehreren Kapiteln in Gedankenspielen um Diskurstheorie und das Verhältnis zwischen Autor und Leser.

Erst gegen Ende folgt wieder ein äußerst fokussiertes Kapitel um das „Drogendorf" Son Banya, das die Frage nach der kollektiven Verantwortung der Stadt und ihrer Bewohner für die dort herrschenden Zustände stellt. Im Epilog erzählt Nadal Suau dann noch eine unnötig lange Geschichte über seine letzte Reise nach London, zu einer Hochzeit, bei der einer der mallorquinischen Gäste von einem Balkon in die Büsche springt, „um den Engländern zu zeigen, wie Balconing geht". Die Pointen dürften vor allem den persönlichen Freunden des Autors zugänglich sein.

Veränderte Spielregeln

Und zwischendurch taucht immer wieder die fiktive Ausstellung Massanets auf. Nadal Suau nutzt sie stellvertretend für die Parallelwelten, die nebeneinander in dieser Stadt existieren. Der Urlauber und der Einheimische, die sich wohl nie kennenlernen werden, und die doch in einem Moment gemeinsam die Dimensionen eines Fotos teilen. Das älteste Bild dieser Ausstellung stammt aus den 80er-Jahren, aus der Kindheit Massanets. Der Künstler hat nie etwas anderes erlebt als eine Insel, die vom Tourismus lebt. Und doch - und darauf will dieses Buch hinaus - haben sich die Spielregeln verändert.

„Temporada alta" ist ein Buch für das Jetzt. Es ist eine Momentaufnahme einer Stadt im Jahr 2019. Womöglich ist die Haltbarkeitsdauer dieser Beobachtungen eher flüchtig. Ein Essay, bei dem man ruhig ein paar Seiten überblättern kann, bei dem man aber auch immer wieder überrascht wird. Es ist der Blick eines jungen Intellektuellen. Aber gleichzeitig auch eine Einladung, selbst hinauszugehen durch die Stadt. Und zu schauen, wie sie eigentlich funktioniert.

Temporada alta, von Josep Maria Nadal Suau, Editorial Sloper, 197 S., 15 Euro