Mallorca Zeitung

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Von wegen arme Bauerninsel: Zehn Mythen über den Tourismus auf Mallorca, die längst widerlegt sind

Das idealisierte deutsche Bild von der Insel basiert auf romantischer Schwärmerei und touristischer Verklärung. Es ist ein großes Missverständnis. Was ein deutscher Historiker herausgefunden hat

Urlauber an einem Strand auf Mallorca Nele Bendgens

Als sich der Historiker Ekkehard Schönherr im Jahr 2000 auf Vorschlag seines Doktorvaters Lutz Niethammer damit zu beschäftigen begann, wie Mallorca praktisch aus dem Nichts heraus in den 60er-Jahren eine gewaltige Hotelinfrastruktur schuf, hatte er schon bald ein Aha-Erlebnis. Die ganze Grundannahme war falsch. Die Tourismuswirtschaft war gar nicht aus dem Nichts einer zutiefst bäuerlich geprägten Gesellschaft heraus aus dem Boden gestampft worden, sondern in vieler Hinsicht von langer Hand geplant und aus einer angehenden industriellen Gesellschaft hervorgegangen. Das veränderte die Ausrichtung seines Forschungsvorhabens grundlegend: „Von da an fragte ich mich, wie es wirklich war, und warum ich so falsche Vorstellungen gehabt hatte", erzählt Schönherr. Das immer wieder tradierte Bild der vom Tourismus aus dem „Dornröschenschlaf" gerissenen Insel, so fand er heraus, wurzelt ebenso in romantischen Projektionen aus dem 19. Jahrhundert wie in der vielen Reisenden eigenen Verklärung des Erlebten. Vor lauter Faszination für das vermeintlich „Authentische" übersahen und übersehen die obendrein meist der Sprache nicht mächtigen Besucher damals wie heute das „vertraute", weil mit der Heimat gar nicht so unähnliche Mallorca.

Das 2014 als Doktorarbeit eingereichte Resultat seiner Forschung liegt seit 2019 aktualisiert und etwas gekürzt als Buch vor: „Modernes Mallorca. Von der ,Insel mit Industrie' zum ,Touristenparadies'". Es ist ein gewaltiges Werk, 624 Seiten dick, davon knapp 50 Seiten Literaturverzeichnis, das in keiner gut sortierten Mallorca-Bibliothek fehlen sollte. Wir haben Schönherr darum gebeten, für uns zehn seiner Erkenntnisse auszuwählen.

1. Eine isolierte Insel

Mallorca war nie isoliert Ab Mitte des 19. Jahrhunderts hat die Insel deshalb auch umfangreich Anteil an den kulturellen und wirtschaftlichen Modernisierungsbewegungen in Westeuropa gehabt. Dazu gehörte der Aufbau einer diversifizierten Industrie mit der Entstehung eines Bürgertums und einer Arbeiterklasse, die sich in der gleichen Art wie im übrigen Westeuropa organisierten. Die Wirtschaft der Insel war zudem umfangreich in internationale Warenströme eingebunden. Um 1900 ist Mallorca eine der am stärksten industrialisierten Regionen Spaniens gewesen. Schon die internationalen Mallorca-Besucher der Fünfzigerjahre besuchten keine arme Insel, sondern eine der reichsten und entwickeltsten Regionen Spaniens.

2. Beschreibungen der Schönheit der Insel

Die ersten Beschreibungen Mallorcas, einschließlich seiner landschaftlichen Schönheiten, wurden entweder von Mallorquinern verfasst oder stark von deren Darstellungen geprägt. Im Zuge der europäischen Romantik erschlossen sich Mallorquiner die Landschaften durch Wanderungen und Exkursionen. Es entstand eine reiche, räumlich konkrete Naturlyrik und Landschaftsmalerei. Insgesamt standen die „erhabenen" Landschaften des Tramuntana-Gebirges im Mittelpunkt des Interesses, die Landschaftsmalerei beschäftigte sich aber auch schon mit den Küsten und dem Inselinneren. Damit haben einheimische Maler schon vor den berühmteren auswärtigen und internationalen Malern, die nach 1900 ein stilistisch neues Bild der Insel schufen, Verständnis der mallorquinischen Landschaft bewiesen.

3. Die Bedeutung von Ludwig Salvator

Die Bedeutung von Erzherzog Ludwig Salvator für die mallorquinische Selbstwahrnehmung der Insel wird heute dramatisch überschätzt.Die Mallorquiner hatten die Bewusstmachung der landschaftlichen Schönheiten ihrer Insel von außen nicht nötig. Das Verständnis dafür war vorher und unabhängig vom Erzherzog vorhanden. Kaum überschätzt werden kann hingegen die Bedeutung Ludwig Salvators für die Wahrnehmung Mallorcas nach außen. Das liegt zum einen an seinem Monumentalwerk „Die Balearen", vor allem aber auch daran, dass er auf dem Anwesen Miramar zahlreiche und internationale Besucher empfangen hat. Als einer der ersten Ziele von organisierten Gruppenreisen ist Miramar so zu einem frühen Kristallisationskeim des Tourismus geworden.

Ludwig Salvator galt als Sonderling, was ihn aber kaltließ. Foto: MZ

4. Infrastruktur und Modernisierung

Die infrastrukturelle und kulturelle Modernisierung des mallorquinischen Alltags fand weitgehend unabhängig vom Tourismus statt.Eisenbahn, Elektrizität, Automobilität, Kino und Radio als kulturelle Schlüsselinsignien kamen ohne den Einfluss des Tourismus nach Mallorca, wo sie schnell weite Verbreitung fanden. Teilweise wurden sie aber schon früh für touristische Zwecke adaptiert.

5. Der Anfang der Tourismusförderung

Der Tourismus kam nicht von außen über die Insel. Bereits vor 1900 wurde der Aufbau einer Fremdenverkehrsindustrie mehrfach als Mittel propagiert, um zusätzliche Einkünfte zu generieren. Der Aufbau der organisatorischen Grundlagen (Hotels sowie des Fremdenverkehrsverbandes Fomento del Turismo) erfolgte durch einheimische Unternehmer und mit einheimischem Kapital. Kurz nach der Jahrhundertwende war die Idee des „Wohlstands durch Tourismus" so populär, dass der Stadtrat von Palma einen Plan zum tourismusgerechten Umbau des Zentrums von Palma und seines Hafens verabschiedete. Von Anfang an ging die Förderung der Tourismusindustrie mit einem infrastrukturellem Ausbau einher. Mehrere Präsidenten des Fomento del Turismo waren Ingenieure, die Schlüsselstellen für den infrastrukturellen Ausbau Mallorcas besetzten. Sie nutzen diese Positionen aktiv, um die Tourismuswirtschaft zu fördern.

6. Die Nutzung der Strände

In Reiseberichten und Selbstbeschreibungen des 19. Jahrhunderts kommen die Strände Mallorcas praktisch nicht vor - gelegentliche Nennungen gehen durchweg mit negativen Assoziationen einher.Im Schatten dieses „hochkulturellen Desinteresses" wurde es aber unter den Bewohnern der inselinneren Gemeinden üblich, sich Sommerhäuser am Meer zuzulegen. So begannen sich Freizeitnutzungen der Strände bei Mallorquinern bereits vor 1900 zu etablieren. Mehrfach verdichteten sich die Sommerhäuser zu neuen Siedlungskernen. Prominentestes Beispiel für eine solche Sommerhaussiedlung am Meer und außerhalb Palmas ist El Arenal. Der spätere internationale Sonne-und-Strand-Tourismus knüpfte also an bereits etablierte Nutzungen der Strände durch Einheimische an.

7. Der Beginn des Massentourismus

Schon vor 1960 war der Begriff „Mallorca" in deutschen Medien eng mit der Vorstellung „Massentourismus" verbunden. Während sich in einer ersten Phase des institutionalisierten Tourismus zwischen 1903 und 1914 herausstellte, dass der hochpreisige Tourismus relativ niedrige Kapazitäten besitzt, zeigte die zweite Phase zwischen 1920 und 1936, dass sich auch mit preiswerten Angeboten Geld verdienen lässt. In den 20er- und 30er-Jahren wurden auf Mallorca „fordistische" touristische Angebote eingeführt, sodass man bereits hier von „Massentourismus" sprechen kann. Diese preisgünstigen, standardisierten Angebote machten Mallorca in den 30er-Jahren zu der spanischen Destination, die von internationalen Besuchern am häufigsten aufgesucht wurde. Das touristische Wachstum setzte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ein, ab 1955 kann man dann von der ersten Boomphase des Massentourismus sprechen. Deutschsprachige Mallorca-Reportagen verknüpften schon in den 30er-Jahren die Beschreibung der Insel mit dem Hinweis auf die vielen Touristen dort. In den 50er-Jahren bildete sich dann die Wahrnehmung einer vom Tourismus überlaufenen Insel heraus.

8. Mythos der "Kraft-durch-Freude"-Reisen

Anders als immer wieder kolportiert, gab es keine Fahrten der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude" nach Mallorca. In den deutschen historischen Untersuchungen zur KdF gibt es keine Hinweise auf Mallorca-Besuche. Albert Vigoleis Thelen, der in der „Insel des zweiten Gesichts" von „Kraft-durch-Freude-Schiffen" und „Kraft-durch-Freude-Menschen" spricht, ist hier nachweisbar völlig unhistorisch.

9. Straßenbau für den Tourismus

Von Anfang an hat der Fremdenverkehrsverband Fomento del Turismo den Ausbau der mallorquinischen Straßen gefördert, um die Insel besser touristisch zu erschließen. Wichtigstes Beispiel für den frühen Bau einer Straße ausschließlich zu touristischen Zwecken ist die Straße nach Sa Calobra und dem Torrent de Pareis. Die häufig anzutreffende Darstellung, der Grund für den Bau der Straße nach Sa Calobra sei vergessen oder der Ingenieur Antonio Parietti habe die Straße mit dem Krawattenknoten um ihrer selbst willen gebaut, ist falsch. Ähnlich wie die Straße nach Formentor ist sie ein Beispiel für eine Straße, die schon vor dem touristischen Boom der 50er-Jahre ausschließlich zu touristischen Zwecken gebaut wurde.

Die Straße nach Port de sa Calobra ist ein Klassiker auf Mallorca. Foto: Jaime Juan Alberola López

10. Das Mallorca-Bild der Deutschen

Die aktuellen Darstellungen der Insel in den verschiedenen Medien in Deutschland bewegen sich im Rahmen von drei großen Themengebieten: Mallorca-Tourismus, das idyllische „authentische" Mallorca, Deutsche auf der Insel. Innerhalb dieser Themen lassen sich viele Geschichten erzählen, dennoch stehen sie für eine stark reduzierte Wahrnehmung. Dieser Rahmen ist nicht in der Lage, Geschichte und Gegenwart Mallorcas auch nur annähernd zu erfassen.

Buchtipp: Ekkehard Schönerr, „Modernes Mallorca. Von der ,Insel mit Industrie' zum ,Touristenparadies'", Logos Verlag Berlin, 69 Euro.

Hiweis: Dieser Artikel erschien erstmals im Januar 2020 in der MZ.

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