Der Standort ist wahrhaft königlich: Auf der kleinen Insel Illa del Rei vor der menorquinischen Hauptstadt Maó entsteht derzeit eine neue, exklusive Galerie aus dem Hause der Schweizer Galeristen Iwan und Manuela Wirth. Die beiden landeten 2019 auf dem dritten Platz des Kunstrankings „Power 100" und gehören seit Jahren zu den einflussreichsten Persönlichkeiten der weltweiten Kunstszene.

1992 in Zürich gegründet, verfügt ihre Galerie mittlerweile über Dependancen in London, New York, Los Angeles, Hongkong, Gstaad, St. Moritz und in der britischen Grafschaft Somerset, wo das Paar residiert. „Das Letzte, was uns gefehlt hat, war, noch einen Standort zu eröffnen", sagten die Galeristen vergangenen Sommer in einem Gespräch mit "El País". Doch sie hätten sich in den Ort und die Schönheit seiner Natur verliebt.

Bauten aus dem 18. Jahrhundert

Die neue Filiale ist untergebracht in den Nachbargebäuden eines ehemaligen Militärkrankenhauses aus der Zeit der britischen Herrschaft über die Insel (1708-1802, mit Unterbrechungen). Für das groß angelegte Projekt arbeitet die Galerie, wie bereits in Somerset, mit dem Architekten Luis Laplace und dem bekannten Landschaftsgärtner Piet Oudolf zusammen. Ferner sollen die behutsamen Restaurierungs- und Umbauarbeiten der historischen Gebäude in enger Abstimmung mit der Fundación Hospital de l'Illa del Rei erfolgen.

Hauser & Wirth Menorca" ist nicht nur als kommerzielle Galerie gedacht. Die Vision lautet vielmehr, auf einer Fläche von 1.500 Quadratmetern ein Kunstzentrum zu schaffen, mit acht Ausstellungsbereichen, Gartenanlagen mit einheimischen Pflanzen, einem Bildungsprogramm, einem Shop und einem Restaurant. Sowohl internationale Besucher als auch die lokale Bevölkerung sollen von dem Angebot profitieren. Eigentlich hätte die physische Eröffnung bereits dieses Jahr stattfinden sollen, nun aber verzögert sie sich bis 2021. Auch wegen der Corona-Krise mussten die Arbeiten immer wieder unterbrochen werden. Sie sind noch nicht abgeschlossen.

Ein erster Rundgang durch die Räume

Die Kunstwerke sollen künftig in wechselnden Ausstellungen von April bis Oktober zu sehen sein, ergänzt durch Leihgaben aus Museen, um die Kontextualisierung zu erleichtern. Doch schon jetzt lässt sich ein Eindruck von der neuen Galerie erhaschen: Am 30. April eröffnete Hauser & Wirth die Virtual-Reality-Ausstellung „Beside itself". Sie versammelt textbasierte Arbeiten von einigen der wichtigsten Künstler der Galerie: Louise Bourgeois, Mark Bradford, Charles Gaines, Ellen Gallagher, Jenny Holzer, Roni Horn, Luchita Hurtado, Mike Kelley, Glenn Ligon, Damon McCarthy, Paul McCarthy, Bruce Nauman, Lorna Simpson und Lawrence Weiner - eine Arbeit von Letzterem ist Titelgeber.

Auf der Website lassen sich unterdessen zwei der geplanten acht Galerien digital und interaktiv erkunden. Iwan Wirth erklärt dort, die ursprünglichen Ziele dieser Visualisierung seien andere gewesen: Die Technologie diene primär dazu, den Künstlern die Räume zu verdeutlichen und erleichtere die Ausstellungsplanung, weil sich so unnötige Reisen, Kosten und CO2-Emissionen vermeiden lassen. „Viele der besten Innovationen werden von der Not angetrieben", so Wirth. Die Corona-Krise habe den Start des Projekts beschleunigt und ihm eine zusätzliche Richtung gegeben. Denn nun können auch die Besucher von VR-Ausstellungen profitieren.

Win-Win mit Wermutstropfen

Die verwendete Technologie ermöglicht zweifellos eine beeindruckende 3D-Erfahrung: Architektonische Details der Räume, Licht- und Schattenverhältnisse sowie die realistische Nachbildung der Kunstwerke selbst holen alles heraus, was mit VR aktuell machbar ist. Wenn man sich per Klicken und Ziehen dreht und durch die virtuellen Räume schlendert, hat man die Kunst ganz für sich allein, kein anderer Besucher stellt sich in den Weg oder fachsimpelt flüsternd mit seiner Begleitung.

Sammler verschaffen sich einen Eindruck der Werke und treffen möglicherweise schon eine Kaufentscheidung, ohne kommendes Jahr vor Ort sein zu müssen. Kunstinteressierte, die sich auf einen Besuch des neuen Zentrums freuen, können sich auf diese Weise die Wartezeit verkürzen. Und wer nach Corona aufgrund physischer oder finanzieller Einschränkungen nicht dazu in der Lage ist, nach Menorca zu reisen, erhält zumindest virtuell Zugang zur Ausstellung.

Eine Win-Win-Situation für die Galerie und das Publikum, könnte man meinen. Dass sie einen Wermutstropfen hat, wird spätestens dann klar, wenn man versucht, Einzelheiten von Ellen Gallaghers Arbeit „DeLuxe" zu erkennen - einem Gefüge aus 60 Drucken in den extravagantesten Techniken, etwa die Gravur mit Tätowiermaschinen. Oder wenn man ein Werk von Louise Bourgeois betrachtet, das die Assoziation zweier Brustkörbe vor blutrotem Hintergrund weckt, in der Mitte verknotet, ohne die Spur irgendeines Organs. Es heißt „La Coeur Est Là" (Das Herz ist da).

Fehlt noch das Herz

Und so wie auf dem Bild das Herz fehlt, vermisst man es auch in einer VR-Ausstellung: Sie lässt kein Näherkommen, kein visuelles Nachforschen zu und bietet eine Kunsterfahrung, der die direkte Begegnung mit dem Original fehlt. Walter Benjamin verwies schon 1935 in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" auf die Aura des Werks - und auf das nicht wiederholbare Erlebnis, denselben Ort und Augenblick mit der Kunst zu teilen.

Im Fall von „Hauser & Wirth Menorca" kommt hinzu, dass es sich um einen außergewöhnlichen Ort handelt, der ein wichtiges Element der Gesamterfahrung darstellt. Ein Grund mehr, das Kunstzentrum in Zukunft zu besuchen, um der virtuellen Realität die echte folgen zu lassen.