Sie bevölkern die Stufen hoch zum Kalvarienberg und die Kirche des Klosters Santo Domingo in Pollença im Norden von Mallorca. Ebenso begrüßen sie die Sterblichen am Fuße und im Inneren des Turmes von Canyamel: die über zwei Meter hohen Skulpturen des Künstlers Joan Bennàssar. Es sind Frauen und Männer, deren Skelette aus Eisen mit Drahtgeflecht sind und deren Körper aus Zement mit einer Schicht erdiger, schimmernder Pigmente bestehen. Die Bäuche der Frauen sind mal rund wie ihre Brüste, mal schlank und flach, die Hälse lang, ihr Gesichtsausdruck ist milde und fragend. Diese stillen Geschöpfe sind einem in den vergangenen Jahren schon an manchem Ort der Insel begegnet, wie in Sóller, in der Nähe von Can Picafort oder in Cala Ratjada.

Dabei ist Joan Bennàssar nicht nur für seine dreidimensionalen Figuren, sondern ebenso für seine Malerei über die Insel hinaus bekannt. In der aus drei Teilen bestehenden Ausstellung unter dem Gesamttitel „Raons Humanes" („Menschliche Beweggründe") lässt uns Bennàssar nun in Pollença und Canyamel über sein Skulpturenvolk und dessen Abbildung auf Leinwand sinnieren. Ein Volk, das er in Anspielung an die griechische Heldenmythologie auch gern als „Argonauten" bezeichnet, als unverzichtbaren Teil der Kultur des Mittelmeeres.

„Eigentlich wollte ich die drei Ausstellungen auf drei Jahre verteilen, aber der Lockdown gab mir sehr viel Zeit für meine Kreativität, und in diesen Zeiten erschien mir mein Anliegen wichtig", sagt Bennàssar, der eigentlich grundsätzlich immer sehr kreativ ist. Zwei Fragen treiben ihn um: „Wo stehe ich gerade? Wo will ich hin?" Er erklärt sich selbst so: „Ich bin ein durch und durch mediterraner Mensch, ein Einwohner des Mittelmeeres, das ist mein Thema. Das Mediterrane ist die Quelle meiner Inspiration: unsere Kultur, Geschichte, die Traditionen, unser Wesen - und zwar aller, die wir am Mittelmeer leben. Dabei suche und erfinde ich mich immer wieder selbst - durch meine Fähigkeiten, durch das, was ich kann: gestalten und Geschichten erzählen", so der 1950 in Pollença geborene Mallorquiner. Derzeit treiben ihn drei essenzielle Probleme um: die Auswirkungen von Globalisierung, Klimawandel und künstlicher Intelligenz. Seine Antworten sind gleichermaßen philosophisch wie sinnlich, sie appellieren an die menschliche Vernunft und an die Liebe: „Auch wenn der Mensch ein Raubtier ist, so ist er auch ein Poet, ein Raubtier, das zu träumen vermag."

Entstanden sind drei gleichzeitig stattfindende, außergewöhnliche Kunstprojekte, die Bennàssar folgendermaßen aufschlüsselt: Der erste Teil, den er schlichtweg als „vivir" („leben") zusammenfasst, ist eine Open-Air-Ausstellung. 44 seiner großen, schlanken Mittelmeerfrauen und -männer, dazu riesige Köpfe, bevölkern die 365 Stufen des Kalvarienberges in Pollença. Im Vorfeld hatte eine Unstimmigkeit zwischen Denkmalschützern und der Stadtverwaltung aufgrund der Montage der Skulpturen für zusätzliche mediale Aufmerksamkeit (und entsprechende Werbung) gesorgt. Doch der Konflikt konnte mittlerweile als Missverständnis beigelegt werden. „Hier geht es mir darum, dass wir Stufe um Stufe erklimmen, um oben und an unserem Ziel anzukommen, wo wir unseren Horizont erweitern können", so Bennàssars philosophischer Kerngedanke.

Der zweite Teil im heiligen Raum der Kirche des Klosters von Santo Domingo ist eine Ergänzung seines „Volkes" mit weiteren acht Brüdern und Schwestern und in etwa noch mal so vielen Leinwänden: „convivir" - das Zusammenleben - soll einen Gegenpol zum offenen Raum auf dem Kalvarienberg darstellen und hat den Rahmen unserer Zivilisation zum Thema: „das Miteinander in einem Labyrinth aus öffentlichen Angelegenheiten und Gesetzen".

Unter dem Titel „La torre del jardí de las musas" („Der Turm im Garten der Musen") ist der Turm von Canyamel im Nordosten Mallorcas die dritte Ausstellungsstätte und den Gefühlen gewidmet. Ein würdiger, beeindruckender Ort: Es erscheint, als begrüßten die Skulpturfrauen den Besucher, sie haben etwas Einladendes, Liebevolles, Gebendes und grundsätzlich sehr Sinnliches an sich.

Gleichzeitig konkurriert ein Trio aus großen Köpfen, darunter der des Weingottes Bacchus, mit der imposanten Präsenz von Mallorcas ältestem Turm aus dem 12. Jahrhundert. Im Inneren erwartet den Besucher ein fast magisches Ambiente: Es wirkt, als seien Bennàssars Werke schon immer hier gewesen, als würden sie, eingetaucht in Licht, mit den dicken alten Sandsteinmauern verschmelzen. Eine Stille und Schönheit, die von der „Bedeutung der Musen erzählt und von dem Gitarristen als Poeten", so der Künstler.

Die Ausstellungen sind, jede einzelne für sich, eine Ode an das menschliche Miteinander, an ein Leben füreinander und ohne Angst. Das ist Bennàssar wichtig, in Anspielung an aktuelle Geschehnisse und die Möglichkeiten, mit künstlicher Intelligenz eine immer stärkere Kontrolle über den Einzelnen auszuüben: „Ich möchte ohne Angst leben", sagt er. Dafür appelliert der Künstler an unsere menschlichen Beweggründe - an die, die aus dem Herzen kommen, an unseren klaren Geist, und an ein Zusammengehörigkeitsgefühl, geprägt durch das Leben an einem großen blauen Meer. Lassen wir uns also inspirieren, mit dem Blick nach oben und auf einen weiten Horizont gerichtet. Die freundlichen Wesen von Bennàssar warten auf uns - sie haben keine Eile und sind noch bis mindestens Ende

November zu bewundern.