Rissige Hauswände, ein Stapel Holzbretter neben einer modrigen Mauer, viel achtlos aufgetürmter Unrat: das hässliche Gesicht des „Brennpunktviertels" La Soledat in Palma de Mallorca. Auf der anderen Seite: ungezwungen spielende Kinder, die agil über Steinbänke springen, hoffnungsvolle Blicke gen Himmel und sehr viel Licht.

Ein solches Spektrum findet sich in den 30 Fotografien ­wieder, die aktuell in einer Ausstellung mit dem Titel „La Soledat: una mirada en femení" (La Soledat: ein weiblicher Blick) vereint sind. Erste Station der Schau war bis zum 17. Januar das Caixa Forum Palma. Vom 22. Januar bis 26. Februar sind die eindrücklichen Momentaufnahmen aus dem Stadtteil im Museu Krekovic zu sehen.

Hinter der Kamera standen jedoch keine Profifotografen, sondern neun Frauen im Alter von 35 bis 65 Jahren, die in La ­Soledat leben und von Sozialarbeiterinnen vor Ort zur Teilnahme angeregt wurden. Ideengeber des partizipativen, von der Fundació La Caixa finanzierten Projekts ist der junge Fotograf und freie ­Journalist Diego Menjibar Reynes. Der 27-jährige Mallorquiner hat schon viel Erfahrung auf dem Gebiet: „From Inside Project" heißt seine übergeordnete Initiative. In den vergangenen drei Jahren arbeitete er in Flüchtlingscamps mit ­Jugendlichen, die ihre Lebensrealität selbst dokumentieren sollten.

Blick von innen, ohne Stigma

„Jetzt war der Gedanke, das Gleiche hier zu machen: jeder Frau aus diesem verletzlichen Viertel, die mitmachen wollte, eine Kamera in die Hand zu geben, damit sie durch ihren ganz eigenen Blick das dortige Leben festhalten kann - frei von den Stigmata und Vorurteilen, die dem Stadtteil La Soledat anhaften", sagt Menjibar bei einem Gang durch die Ausstellung. Sofern es die Corona-Situation erlaubt und Sponsoren gefunden werden, soll es eine Fortsetzung in weiteren „vergessenen" Vierteln wie Camp Redó oder Son Gotleu geben.

Die Frauen kommen aus verschiedenen Ländern, unter anderem Spanien, Ecuador, Bolivien und Marokko, und bilden damit einen gesellschaftlichen Querschnitt aus dem Viertel. „Der Ort, wo du herkommst, beeinflusst immer ein wenig die Art, wie du die Welt betrachtest", sagt Menjibar. Mehr noch als der kulturelle Hintergrund spiegele sich jedoch die jeweilige Persönlichkeit und der eigene ­Fokus in der Wahl der Motive und in der Bildsprache.

So habe sich Badia Khharrou Mallaki zum Beispiel für spannungs­geladene Momente interessiert: Zwangs­räumungen und Dokumentationen der durchaus existierenden Gewalt. Bei einigen Fotografinnen gehe es auch um die Hürden und Hindernisse auf den Straßen von La Soledat. „Eine häufig wiederkehrende Anklage ist, dass überall Müll ­herumliegt", erklärt Menjibar. Die Frauen richteten ihren Blick auf den Schmutz, die Vernachlässigung, auf Treffpunkte von Drogenabhängigen. „Auf der anderen ­Seite drücken aber viele von ihnen ihre ­eigenen Gefühle durch Porträts ihrer Umgebung aus", so der Fotograf.

Wie ein Phönix aus der Asche

Die Frauen nutzten teils intensiv die Möglichkeit, den Bildern einen Titel zu geben und einen Beschreibungstext hinzuzufügen, um ihren Fotos eine zusätzliche Bedeutungsebene zu geben. Etliche Motive werden somit zu Metaphern des Lebens, erklärt durch poetische Zeilen, die zu­gegebenermaßen in manchen Fällen ein wenig an Kalendersprüche erinnern. So ist unter dem Bild eines verfallenen Gebäudes (Titel: „Hoffnung") zu lesen: „Über

diesem Haus scheint immer die Sonne. Das zeigt uns, dass es nicht wichtig ist, wie zerstört wir sind, denn es wird immer Hoffnung geben, um noch einmal neu zu beginnen."

Das Thema vom Phönix aus der Asche kehrt häufig wieder. Auch für die trans­sexuelle Teilnehmerin Ivonne Moll Siles geht es dabei um Hoffnung: Sie inszeniert sich selbst, von einem Sonnenstrahl erhellt, beim Blick aus ihrem geöffneten Fenster. In ihrer Botschaft beschwört sie die Fähigkeit, das Licht zu sehen, trotz ­aller Dunkelheit.

Ausdrucksform Fotografie

Nicht alle Teilnehmerinnen wagten es, Passanten anzusprechen, um sie zu fotografieren, erzählt Menjibar. Doch bei ­denjenigen, die es taten, sind Momentaufnahmen voller Leben entstanden. Caterina Ramis porträtierte etwa einen älteren Mann, der sich am Straßenrand auf seinen randvoll beladenen Einkaufstrolley stützt. Die Fotografin sieht in Letzterem einen Verbündeten, der dem Senioren hilft, Lasten zu tragen, und fragt im Text: „Wie oft wünschten wir uns, einen Trolley zu haben, der uns das abnimmt, was wir tagtäglich tragen müssen?"

Laut Menjibar nahmen sich die Frauen viel Zeit für die Reflexion über ihre eigenen Bilder. Raum dafür bekamen sie im Rahmen eines Foto-Workshops, der die Fixpunkte des Projekts darstellte - zwischen den Terminen zogen die Frauen mit ihren Kameras los. Bei der Technik habe Menjibar nur die Grundlagen vermittelt wollen, um den frischen Blick nicht zu trüben. „Ich lade auch dazu ein, Regeln bewusst zu brechen", sagt er. Vor allem aber sollten die Frauen das Medium der Fotografie als neue Ausdrucksmöglichkeit für sich entdecken.

In diesem Sinne entsprechen auch nicht alle Ergebnisse hundertprozentig dem Grundgedanken, eine neue Perspektive auf La Soledat zu zeigen: Ein abgebildetes Haus befindet sich zum Beispiel in einem anderen Viertel von Palma, es erinnerte die Frau aber an ihr vergangenes ­Leben. Und eine andere Teilnehmerin foto­grafierte den Strand. Menjibar sagt dazu: „Ich wollte den Frauen nicht vorschreiben: Das ist euer Bereich, darüber dürft ihr nicht hinaus. Und wenn das Meer etwas ist, das diese Frau tief berührt, dann hat das ­natürlich auch seine Berechtigung."