Es ist billiger Klischee-Kitsch der schlimmsten Sorte: ein Souvenir-Teller mit Flamenco-Tänzerin, Gitarre und Paella, im Hintergrund das ­Hotel „Palace". Und doch hält er als Erbstück Einzug in den Besitz einer spanischen Familie, Protagonisten in „Todo bajo el sol" (Salamandra Graphic, 22 Euro), dem neuen Comic der valencianischen Illustratorin Ana Penyas (34). 1969 bekommt der Kellner Alfonso das scheußliche Keramikstück als symbolisches Zeichen der Anerkennung von seinem Chef, dem Hotelbesitzer. Die Tante räumt dem Teller direkt einen Ehrenplatz im Regal frei und stellt mit Bewunderung fest: „Wie gut, dass du aus dem Dorf herausgekommen bist."

Urlauber auf der Suche nach dem Paradies

Penyas, die 2018 als erste Frau den Premio Nacional del Cómic gewann, begleitet in ihrem neuen Werk Alfonso und seine Angehörigen über mehrere Jahrzehnte und erzählt in Etappen von den Wechselfällen ihrer Leben. Dabei verdichtet sie wie unter einem Brennglas die Transformation eines von Valencia ­inspirierten, aber fiktiven spanischen Küstenstädtchens: In kräftigen Farben und mit vereinzelten fotorealistischen Elementen malt sie die Ankunft deutscher Urlauberinnen, die unter der sengenden Sonne „ein kleines Paradies" suchen, während Alfonso seinen Job beginnt und um seine spätere Frau Amparo wirbt. Mit großem Feingefühl, aber nie sentimental zeichnet Ana Penyas nach, welche Spuren Tourismus-Boom, Stadtentwicklung, Spekulation und Gentrifizierung bis in die Gegenwart in dem kleinen Ort und bei seinen Bewohnern hinterlassen.

Da ist zum Beispiel Alfonsos Mutter ­Dolores, im Jahr 1987 dreifache Großmutter, die den freizügigen Badeanzug verweigert und es nicht über sich bringt, am Strand zu sitzen und „nichts zu tun", während sie doch schon einmal das Mittagessen kochen könnte. Ihr Enkel Pablo, der 1996 als 18-Jähriger tagsüber auf dem Bau schuftet und die Nächte mit Drogen und Partys verbringt. Seine Schwester Alba, die 2006 als unterbezahlte Praktikantin in einem Architekturbüro in Berlin arbeitet - und sich wundert, dass ihr Arbeitgeber eine „urbane Initiative" in ihrem Heimatort plant. Mar, die jüngste der drei, die geblieben ist und sofort nach Feierabend ihr schickes Kostüm, das sie bei 43 Grad tragen muss, gegen ein schwarzes T-Shirt mit „Antifa"-Print tauscht.

Penyas gelingt mit ihrem grafischen Essay eine optisch reizvolle Chronik der jüngsten spanischen Geschichte, bei der auch deutsche Leser sich in einigen Kapiteln wiederfinden - und einen Anflug von Fremdscham verspüren dürften. Der Fokus auf eine Familie, die man mit forschreitender Lektüre immer besser kennenlernt, sorgt zudem für emotionale Anteilnahme. Wenn der einst so geschätzte Kitsch-Teller später achtlos in der Trödelkiste landet, möchte man Alfonso schütteln und ­rügen: Wie kannst du das nur zulassen?

Ein Familienfoto aus dem Jahr 1946

Auch der international bekannte und vielfach preisgekrönte Comic-Autor Paco Roca (52) beherrscht die Kunst, seine Leser in persönliche Familiengeschichten zu verwickeln und so historische Themen greifbar zu machen. „Regreso al Edén" (Astiberri, 18 Euro) heißt seine neue Graphic Novel, die zeitlich ­früher angesiedelt ist als Ana Penyas' Erzählung: Dreh- und Angelpunkt ist ein Familienfoto, das im Jahr 1946 an der Playa de Natzaret in Valencia entstand. Darauf zu sehen ist die Protagonistin Antonia, die die Aufnahme später wie einen Schatz hütet. Sie fing einen fragilen Moment ein, in dem sie selbst noch an einen glücklichen Ausgang ihres Leben glaubte.

Roca illustriert indes den Werdegang des Mädchens, der es tatsächlich in eine trostlose Existenz führen wird: Als hätte der Autor alle bunte Fröhlichkeit abgesaugt, überzieht er die Bilder mit einem Schleier aus Grün-, Grau- und Sepia-Tönen. Denn hier geht es nicht um schillernde Biografien, sondern um eine von ­unzähligen Familien, die nach dem Spanischen Bürgerkrieg unter der Diktatur von ­Francisco Franco ein ärmliches Leben führten. „Woran sich Antonia am deutlichsten aus den Tagen ihrer Kindheit erinnerte, war der Hunger. Hunger zu jeder Stunde, den ganzen Tag, jeden Tag", schreibt Roca und malt seine Hauptfigur in eine Fantasieszene mit reich gedecktem Tisch in den Wolken.

Immer wieder flicht der Autor surrealistische Elemente in den kunstvoll konstruierten Comic ein: Statt eines Herzens brodelt in ­Antonia etwa ein explodierender Vulkan, wenn sie wütend ist. Und dazu hat sie allen Grund: „Regreso al Edén" erzählt vom Leid der Frauen. Vom gewalttätigen Vater, der von ­Antonia bedingungslose Fügsamkeit in ihr Hausfrauendasein erwartet. Von der stets in Schwarz gekleideten Mutter, die ihrer Familie die gekochten Süßkartoffeln überlässt und sich selbst mit trockenem Brot begnügt. Oder von der Schwester, die ein uneheliches Kind erwartet und damit jeglichen Respekt einbüßt. Es ist die düstere Vorgeschichte zu den späteren Episoden, die Ana Penyas in Farben und Worte fasst - und beide Teile, die das kollektive Gedächtnis Spaniens abbilden, sind gleichermaßen eindrucksvoll und lesenswert.