Meisterwerke fesseln uns mit ihrer „heiligen Aura" der Perfektion. Unvollendete, beschädigte oder skizzierte Werke verfügen dagegen über ein spezielles Funkeln: Sie überraschen uns und regen dazu an, ihre Geheimnisse zu ergründen. Dieser Ansicht ist María Bolaños, Direktorin der Museo Nacional de Escultura und Kuratorin der Ausstellung „Non finito. El arte de lo inacabado", die vom 7. April bis zum 15. August 2021 im Caixa Forum in Palma de Mallorca Premiere feiert. Danach wird die Schau in Valladolid und Zaragoza zu sehen sein. Sie vereint 85 Werke verschiedenster Epochen und Techniken aus rund 40 Museen und Sammlungen zu einem thematischen Rundgang.

In sechs verschiedenen Bereichen werden die Besucher an unterschiedliche Sichtweisen auf „unfertige" Kunst herangeführt. Nicht immer steckt dahinter, dass der Künstler auf halber Strecke das Handtuch geworfen hat: Seit der Renaissance entdeckten Meister wie Michelangelo oder Leonardo da Vinci das „Non-finito" als eigene Kunst-Kategorie, die bereits die Essenz des Werks enthält. Ob als bewusstes Stilmittel, durch mutwillige Zerstörung, aus höherer Gewalt oder aus pragmatischen Gründen, etwa bei Skulpturen, die nur von vorne zu sehen sein sollten und deren Rücken daher klaffend rohes Holz zeigt: Es ist ein weites und faszinierendes Feld, das hier mit Querverbindungen zwischen Werken teils großer Namen wie Joseph Beuys, Dora Maar, Max Ernst, El Greco, Rembrandt van Rijn, Marc Chagall, Joan Miró oder Otto Dix erschlossen wird.

Experimentierfreude und Frustration

So beschäftigt sich der Raum „El encanto de los comienzos" zum Beispiel mit der Experimentierfreude im Atelier: Bei dem zweidimensionalen, mobilen Papp-Modell einer Tänzerin, das der spanische Bildhauer Pablo Gargallo 1929 anfertigte, ist die Dynamik bereits spürbar - man kann sich lebhaft die finale Bewegung der pirouettendrehenden Skulptur vorstellen. Überall in der Ausstellung ergänzt der Geist, was noch nicht oder nicht mehr zu sehen ist: Die Züge auf dem gespenstisch leeren Gesicht eines königlichen Porträts, der abgeschnitte Zweig einer gezeichneten Rose, die vor dem inneren Auge weiterwächst oder die Venus von Botticelli, die man bei einem Werk von José Manuel Ballester auf der leeren Muschel zu vermissen glaubt.

Neben spielerisch-fröhlichen Ansätzen wie letzterem gibt es aber auch Zeugnisse von frustrierenden Betrebungen und unmöglichen Projekten: Der Turmbau zu Babel erhält einen prominenten Platz in der Ausstellung, sowohl als Bildthema als auch in übertragenem Sinne. Ebenfalls vertreten sind traurige Schicksalsschläge: So ist gleich zu Beginn das letzte Werk von Joaquín Sorolla zu sehen. Während er an einem Sommermorgen im Jahr 1920 das Porträt von Mabel Rick, der Frau des Schriftstellers Ramón Pérez de Ayala malte, erlitt er einen Anfall. Sorolla konnte das Bild nicht vollenden und danach nie wieder einen Pinsel halten. Fast wirkt der melancholische Blick der Porträtieren, als stünde er mit dem tragischen Vorfall im Zusammenhang.

Verschwinden und Transformation

Zwischen Tragik und Poesie bewegt sich auch der Themenbereich „La erosión", der verdeutlicht, dass kein Kunstwerk auf Dauer vor dem Verschwinden gefeit ist. Eine wurmstichige Holzfigur aus einem spätgotischen Grab mit einem von Feuer zerfressenen Gesicht oder eine durch Wind und Wetter gezeichnete Steinskulptur von einer Kathedralenfassade gewinnen durch diesen Prozess trotz allem eine neue Dimension an stiller Schönheit und Reduktion auf das Wesentliche.

Dem Spannungsfeld zwischen dem „Ist-noch-nicht" und „Ist-nicht-mehr" spürt auch der Raum „Metamorfosis" nach: Darin geht es um Werke, die in ständiger Transformation begriffen sind. Ein anamorphotisches Ölgemälde von Karl V. wird hier beispielsweis erst dadurch vervollständigt, dass der Betrachter durch eine Linse am Rahmen blickt, die das verzerrte Porttät lesbar macht.

Vom Unvollendeten zum Unendlichen

Zuletzt schlägt die Ausstellung eine Brücke vom Unvollendeten zum Unendlichen: Das abstrakte Konzept findet in der Kunst auf mannigfaltige Art Gestalt. Beim niederländischen Landschaftsmaler Jan Van Goyen durch Schiffe, die am Horizont entschwinden. Bei einer faszinierenden plastischen Darstellung aus dem Barock von gefallenen Engeln, die bodenlos in alle Richtungen zu stürzen scheinen. Oder bei Marcel Duchamp, der mit seinen „Rotoreliefs" die hypnotische Kraft der nie endenden Wiederholung zeigt - neben den Originalen hinter Glas ist ein Scheibe montiert, die sich beim Anblick dreht und so den gewünschten Effekt der optischen Illusion kreiert. Den passenden Abschluss bildet die „Unendliche Fläche für Drei Positionen" von Max Bill: eine vergoldete Metallversion eines Möbiusbandes. Hier materialisiert sich die Idee von Unendlichkeit in einer vollendeten Figur.

Mo.-Sa., 10-20 Uhr, So. und feiertags 11-14 Uhr, Eintritt: 6 Euro (unter 16 Jahren und für Caixa-Kunden frei), caixaforum.es