Der Titel der neuen Ausstellung im Es Baluard „Mira a ver si?... Poesía experimental y mail art en Mallorca" führt zunächst in die Irre, denn der Begriff „mail" ist heute fest mit dem Computer verbunden. Doch hier ist mit „mail" schlicht „Post" gemeint, nämlich Karten und Briefsendungen im Versand auf dem Postweg, damals der Normalfall.

In den späten 1960er-Jahren begann eine künstlerische Avantgarde in Europa, USA, Lateinamerika, sogar in Osteuropa aktiv und bekannt zu werden. Neue künstlerische Formen wurden überall gesucht und erprobt, die auf die gesellschaftspolitischen Umbrüche reagierten: die Kuba-Krise, den Vietnam-Krieg, die Hippie-Bewegung, die RAF in Deutschland, die Roten Brigaden in Italien, die Repression in Osteuropa, den Militär-Putsch in Chile und die letzten Jahre der Franco-Diktatur in Spanien (1939-1975).

Auch Künstler auf Mallorca griffen diese Anregungen auf durch Happenings, Performances, durch experimentelles Theater und Musik. Plakate, Zeitschriften und Manifeste entstanden, manche nur als Unikate, andere in kleinster Auflage. Es war die große Zeit des Siebdrucks und der Offset-Auflagen. Eine neue Freiheit wurde gefeiert in spontanen Formen, die aus dem bisherigen konventionellen Rahmen fielen und als provozierend empfunden wurden. So waren sie auch gemeint (Beuys formulierte in dieser Zeit in Deutschland den „erweiterten Kunstbegriff", der die Kunst vor allem als Aktion verstand).

Risiko und Bruch

Gesucht wurden neue künstlerische Ausdrucksweisen für eine andere, liberale Gesellschaftsordnung. Kunst wurde als sozio-politisches Instrument eingesetzt, was in manchen Ländern zu heftiger staatlicher Gegenreaktion führte. Auf Mallorca spielten Umwelt- und Landschaftsschutz (u. a. der Erhalt des natürlichen Biotops der Insel La Dragonera) eine wichtige Rolle. Die neue Kunst war „subversiv" und als solche bedrohlich. Der Künstler stellte ein Risiko dar und lebte mit diesem. Das heute den Kunstmarkt bestimmende Vermarktungsinteresse fehlte völlig.

Einige Gruppen arbeiteten nur wenige Jahre zusammen, manche eine Dekade oder mehr. Neben individuellen Einzel-Aktionen entstanden auf Mallorca einige dauerhafte Künstlerkollektive, deren reichhaltige Archive heute einen genauen Einblick in die ästhetischen Ausdrucksformen dieser Zeit geben.

Reicher Fundus

Jaume Pinya, Kurator der Ausstellung im Es Baluard und einer der damals aktiven Künstler, hat diese umfangreiche Schau konzipiert und aus Archiven der Kollektive wie den persönlichen Schubladen und Ablagen der einzelnen Künstler die Exponate zusammengetragen. Pep Canyelles, Jaume Pinya und Horacio Sapere hatten häufig gemeinsam ausgestellt und auch thematisch eng zusammengearbeitet. Gelegentlich wurden Plakate, Postkarten, kleine Objekte und grafische Arbeiten in kleiner Auflage oder als Einzelstücke zum Verkauf angeboten, um die Aktionen zu finanzieren. Diese künstlerisch hochwertigen Preziosen belegen den hohen Anspruch der Künstler und sind in der Ausstellung im Original präsent. Ein Video zeigt eines der Happenings: junge Menschen mit langen Haaren und Schlaghosen, die auf einem Platz in Palma auf dem Boden sitzen, in großen Plastikschüsseln Salat vorbereiten, rauchen und singen. Ähnliche Bilder waren auch in den 70er-Jahren in den USA oder Deutschland zu sehen.

Es entwickelte sich eine experimentelle internationale Zusammenarbeit, deren Ziel nicht das singuläre Kunstwerk und dessen Verwertung war - der Austausch stand im Vordergrund. Insgesamt sind mehr als 1.000 Exponate von 196 Künstlern aus aller Welt in drei Sälen zu sehen. Was sie vereint, sind die originellen Ideen und die sparsame, materiell bescheidene Realisierung. Größer könnte der Gegensatz zum heutigen glamourösen Kunstbetrieb nicht sein.

Internationaler Austausch

Das dokumentarische Material aus den persönlichen Archiven enthält vor allem private Korrespondenz mit Künstlerkollegen aus aller Welt, Einladungskarten, Presseausschnitte und künstlerisch verschlüsselte Nachrichten, die wegen der Zensur im Umschlag handvernäht verschickt worden waren - so etwa von dem polnischen Künstler Pavel Petasz. Absender aus Montevideo, Buenos Aires, Warschau, Antwerpen, New York oder Berlin finden sich auf den fantasievoll gestalteten Umschlägen für Postkartencollagen mit handschriftlichen Begleitnotizen. Jede Postsendung war schon als solche ein kleines, sorgfältig gestaltetes Kunstwerk.

Der internationale Austausch, die Zusammenarbeit und die daraus resultierende internationale Aufmerksamkeit waren ein existenzieller Faktor. Denn in den 70er-Jahren wurden politisch verdächtige Ausstellungen zwangsweise geschlossen und von rechten Gruppen attackiert. Umso radikaler bemühten sich die Künstler um einen klaren Bruch mit dem bisherigen System. Clemente Padin aus Uruguay, ein Pionier der konkreten Poesie, wurde wegen seiner politischen Aktionen 1977 verhaftet, aber nach zweijährigem internationalen Protest freigelassen. Sieht man sich die spielerischen, oft witzigen Exponate der Ausstellung an, scheint aus heutiger Sicht nichts Riskantes feststellbar.

Dieser Fundus umfasst die Zeit von 1973-1983, die besonders aktive Zeit des Umbruchs in Europa und Lateinamerika, der bis nach Mallorca wirkte. Im Stadtteil Calatrava, im alten Judenviertel und um die Kirchen Santa Eulàlia und Sant Nicolau lebten etliche Künstler. Man half sich nicht nur gegenseitig, man engagierte sich auch gemeinsam politisch. Ateliers und Werkstatträume wurden geteilt. Die erste Buchhandlung, Cavall Verd, öffnete mit dem Schwerpunkt Poesie und bot den jungen Poeten Mallorcas ein Forum. Die Galerie 4 Gats zeigte in Palma nicht nur einheimische Künstler wie den jungen Miquel Barcelò, sondern sogar Werke von Miró, Saura, Picasso oder Brossa. Die Politik der Galerie war, jeden Bewerber zu akzeptieren; es gab keine Auswahl und Zensur, keinen Verkauf, das Ziel war die gegenseitige Information und die Pflege des Netzwerkes. Nicht das einzelne Werk zählte, sondern der Beitrag zum Austausch.

Die Ausstellung ist gut kommentiert durch Erläuterungen auf Spanisch, Katalanisch und Englisch, auch das kostenlose Begleitheft ist dreisprachig. Ein Besuch lohnt sich unbedingt, man sollte aber genug Zeit einplanen und seine beste Lesebrille mitbringen, um die kleinen Kostbarkeiten entschlüsseln zu können. Das Museum bietet im Übrigen bis August regelmäßige Führungen an, die bei dieser umfangreichen Exponatensammlung eine nützliche Orientierung geben.

„Mira a ver si?... Poesía experimental y mail art en Mallorca"Bis 22. August, Es Baluard, Museu d'Art Contemporani de Palma, Plaça Porta Santa Catalina, 10,Tel.: 971-90 82 00, Di.-Sa. 10-20 Uhr, So. 10-15 Uhr

Santa Catalina

www.esbaluard.org