Der „Ausbrecherkönig“ Walter Stürm ist in der Schweiz eine Kultfigur: Als Berufskrimineller sorgte er in den 1970er- und 80er-Jahren mit seinen geglückten Fluchten aus dem Gefängnis, bei denen er gern Botschaften wie „Bin beim Ostereiersuchen“ hinterließ, für Furore. Der Schweizer Regisseur Oliver Rihs erzählt in dem Drama „Bis wir tot sind oder frei“, der ab Freitag (14.1.) im CineCiutat läuft, auch die Geschichte von Stürms linker Anwältin Barbara Hug, die das Strafrecht verändern wollte. Im MZ-Interview spricht Rihs über die Bedeutung von Freiheit, Mut – und die Bedeutung für die heutige Zeit.

Walter Stürm wurde in der Schweiz zum Sinnbild für Freiheit und Anarchie. Sie hatten selbst eine rebellische Jugend, was hat Sie damals an Stürm so begeistert?

Ich habe ihn als Teenager Che-Guevara-mäßig idealisiert. Er war für uns ein Vorbild, weil er dem Schweizer Staat quasi seinen Hintern gezeigt hat. Als ich mich an die Drehbucharbeiten gemacht habe, ist so etwas wie eine Demaskierung geschehen. Denn ich habe plötzlich gemerkt, dass er nicht so ein toller Typ war, wie wir uns das vorgestellt hatten, sondern eine wahrscheinlich sehr narzisstische bis hin zu soziopathische Persönlichkeit – getrieben von krimineller Energie, die aber letztendlich in die Einsamkeit geführt hat.

Der Film ist kein Biopic von Walter Stürm geworden, die Geschichte seiner Anwältin Barbara Hug rückt in den Vordergrund. Warum haben Sie sich in diese Figur verliebt?

Walter Stürm zur Hauptfigur zu machen, wurde für mich immer schwieriger, je mehr ich gemerkt habe, dass ich ihn sympathischer zeichnen müsste, als er wirklich war. Die Figur von Barbara Hug wurde für mich dagegen immer interessanter, je mehr ich mich mit ihr beschäftigt habe. Als ich hörte, dass zwischen den beiden durchaus noch mehr als eine professionelle Mandantschaft gelaufen ist, war ich hin und weg! Über die Beziehung dieser ungleichen Charaktere – den getriebenen narzisstischen Kriminellen und die intellektuelle, fast Mutter-Teresa-Linke – eine Story zu erzählen, war für mich das wirklich Packende.

Wie würden Sie die komplizierte Beziehung zwischen Stürm und Hug beschreiben?

Die Frage ist, ob es wirklich Liebe ist. Ich habe manchmal eher das Gefühl, es ist diese Art von: Man glaubt sich in einen Menschen zu verlieben, mit dem man nicht zusammen sein kann. Dabei geht es sehr stark um Spiegelung und Selbstfindung. Man kann sich am anderen abarbeiten und selbst besser kennenlernen – in erster Linie, indem man leidet.

Barbara Hug kämpft gegen das rückständige Schweizer Justizsystem ihrer Zeit. Was waren die größten Missstände innerhalb und außerhalb der Gefängnisse?

Einerseits war die Schweiz ein ganz krasser Überwachungsstaat mit kaum Freiräumen für alternative Kultur, das ganze Geld floss an die Bourgeoisie. Da gab es viel angestaute Aggression, die zur Explosion kam und Zürich eine Zeit lang zu einem kleinen Schlachtfeld machte. Die Isolationshaft ist nach wie vor ein großes Thema in der Schweiz, und eigentlich Folter. Trotzdem kommt es auch aktuell dazu, dass Menschen auf diese brutale Art weggesperrt werden. Und Walter Stürm hat sich tatsächlich in fast allen Gefängnissen immer über den Zustand des Birchermüslis aufgeregt. Für ihn war es so: Wenn man nicht einmal ein einigermaßen gutes Birchermüsli machen kann, dann ist das ein Zeichen dafür, dass man dem Gefangenen die Würde nehmen will. Wir haben das als humorvolles Detail im Film verwendet, auch ein bisschen als Karikatur der Schweiz.

Sie wollten zuerst unbekannte Gesichter für die Hauptrollen. Warum fiel die Wahl dann auf Joel Basman und Marie Leuenberger?

Joel Basman war der Einzige, der auch so eine gewisse kriminelle Energie und das Ungreifbare, Chamäleonartige mitbrachte. Er ist jung, hat aber schon ein bewegtes Leben hinter sich. Bei Marie Leuenberger war es viel mehr Arbeit. Sie ist eine sehr aufgeräumte Persönlichkeit und musste in den extremen Charakter von Barbara Hug hineinwachsen. Das Interessante dabei war, dass Joel Basman im gleichen Haus aufgewachsen ist, in dem Barbara Hug in Zürich gelebt hat. Total crazy! Er hatte sehr viele genaue Kindheitserinnerungen an seine Nachbarin. Damit hat er Marie Leuenberger viel an die Hand gegeben: ihre Gestik, Mimik oder wie sie sich ausgedrückt hat.

Das deutsche Publikum wird sich freuen, auch Jella Haase („Fack ju Göhte“) als Heike Vollmer auf der Leinwand zu sehen. Welche Bedeutung hat ihre Figur im Film?

Jella Haase verkörpert eine junge deutsche Aktivistin, die sich in Walter Stürm verliebt. In Wahrheit war es eine junge italienische Aktivistin, die mit Stürm eine jahrelange On-off-Beziehung geführt hat. Ich wollte Jella aber unbedingt reinbringen. A, weil ich sie für eine wahnsinnig tolle Schauspielerin halte, und B, weil es mir sehr wichtig war, eine Kontrast- Figur zu Barbara Hug zu schaffen, die auf eine ganz andere Art ihre Weiblichkeit und ihre Idee von Freiheit leben kann.

Freiheit in all ihren Facetten ist das große Thema des Films. Inwiefern trifft das in Corona-Zeiten einen Nerv, obwohl der Film ja in den 1980er-Jahren spielt?

Es war mir sehr wichtig, dass wir dieses Thema in die heutige Zeit holen können. Der Film wühlt sehr viel auf, und ich wollte die Komplexität von Freiheit in den Vordergrund rücken – es reicht nicht, dass einem der Staat einen Fahrplan vermacht. Freiheit braucht auch sehr viel Mut vonseiten des Individuums. Wann bin ich wirklich frei von Zwängen, Ängsten, Beziehungsproblemen und Repressalien? Der Film will provozieren, dass man sich selbst vor den Spiegel stellt und sich fragt: Wie frei bin ich eigentlich?