Wann darf und sollte man von einer literarischen Generation sprechen? Erst dann, wenn der Blick in die Vergangenheit geschweift ist und mit entsprechendem Abstand Leben, Werk und Wirken der beteiligten Autorinnen und Autoren gewürdigt werden können? Oder bereits dann, wenn man mittendrin steckt? Spanien jedenfalls ist reich an literarischen Generationen. Da ist etwa die von 1898: Spanien verlor damals im Krieg mit den USA seine letzten bedeutsamen Kolonien und seinen Stolz, im Land rumorte es, Schriftsteller und Intellektuelle wie Miguel de Unamuno, Antonio Machado, Ramón del Valle-Inclán oder José Ortega y Gasset versuchten sich an einer geistig-moralischen Neuorientierung – und sparten dabei nicht an Kritik an der Bigotterie des Bürgertums.

Oder die Generation von 1927, die die Gruppe an Dichtern zusammenfasst, die von den 1920er-Jahren bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs wirkte und wirbelte. Der Dichter Federico García Lorca, 1936 bei Granada von faschistischen Schergen ermordet, war wohl ihr prominentester Vertreter.

Und nun also, knapp einhundert Jahre später, drängt anlässlich des Gastlandauftritts von Spanien auf der Frankfurter Buchmesse (vom 19. bis zum 23. Oktober) die selbst ernannte „#Generation22“ mit einem Manifest ins Rampenlicht. So steht es da: „Vom Goldenen Zeitalter zum Jugendstil und Magischen Realismus / Von Don Quijote zu den Avantgarden / Von 98, 27, 50, der 70er / In Tinte, in Tweets / Wir erleben jetzt live die Geburt / eines neuen Bewusstseins / das eine neue Generation gestaltet.“ Digital soll sie sein, diese neue Generation, heißt es weiter. Inklusiv und nachhaltig. Eine, die weder Alter noch Geschlecht kenne und die, so das Motto des spanischen Auftritts in den Messehallen unweit des Mains, für „Creatividad desbordante“, also für „Sprühende Kreativität“ stehen soll.

Früher war mehr Strand

1991, vor 31 Jahren beim damaligen Gastlandauftritt, hieß das Motto noch „La hora de España“ („Die Stunde Spaniens“), und die Verantwortlichen waren sich seinerzeit nicht zu schade, rund zehn Tonnen Sand im Pavillon aufzuschütten: Das Land, an dessen Stränden die Deutschen sich im Sommer brutzelten, sollte dadurch wohl auch ein literarisches Sehnsuchtsland werden. Die Zeiten sind andere geworden, der diesjährige, 2.000 Quadratmeter große Messepavillon ist als digitales Kunstwerk gedacht: „Dank künstlicher Intelligenz füllen sich die Wände im Pavillon wie die Seiten eines überdimensionalen Buches mit den Worten und Textfragmenten, die an den Messetagen hier zu hören sind, und Worte wandeln sich in bunte Farbwelten“, kündigen die Veranstalter an.

Und auch Spanien, das damals, 1991, erst relativ frisch in der NATO und der Europäischen Gemeinschaft war und noch die Fesseln des Franquismus abstreifte, ist heute ein anderes Land mit anderen Sorgen und Nöten, mit anderen Träumen, Themen und Traumata – was sich auch in der zeitgenössischen Literatur widerspiegelt. „Damals öffneten wir uns der Welt“, erinnert sich Daniel Fernández, der Direktor des spanischen Verlegerverbandes, der schon 1991 mit dabei war. „Wir präsentieren viele zeitgenössische Werke, die deutlich zeigen, dass Spanien ein anderes Land ist als noch vor 30 Jahren“, kündigt auch Elvira Marco, Projektleiterin für den Ehrengastauftritt Spaniens, an.

Spaniens Literatur ist zum einen sehr viel weiblicher geworden: Viele junge, spannende Autorinnen mit einer mitunter explizit feministischen Agenda wie Elvira Sastre („Die Tage ohne dich“), wie Milena Busquets („Meine verlorene Freundin“) oder wie Elisa Levi („Anderes kenne ich nicht“) haben die literarische Bühne betreten. Zum anderen erheben dort inzwischen auch Migrantinnen wie etwa Najat El Hachmi („Am Montag werden sie uns lieben“) ihre Stimme. Sie schreibt über die Erfahrungen eines jungen Mädchens marokkanischer Herkunft, das in der Peripherie Barcelonas aufwächst. Entwurzelung, die Suche nach Identität und weibliche Selbstbehauptung sind starke, wiederkehrende Themen.

In Sachen Sprache offen und divers

Spanien, dessen politische Agenda immer mal wieder von katalanischen Separatisten bestimmt wird, präsentiert sich im Jahr 2022 offen und divers. 75 Prozent der vorgestellten Bücher sind in castellano, also auf Spanisch erschienen. Der Rest in den drei anderen regionalen Amtssprachen: Katalanisch, Galicisch und Baskisch, 1991 war das noch undenkbar. So wird Maria Barbal, die „Grande Dame“ der katalanischen Literatur, deren erfolgreiches Buch „Die Zeit, die vor uns liegt“ – ein Roman über das Wagnis Liebe im reiferen Alter – nun auf Deutsch erschienen ist, in Frankfurt vertreten sein. Ebenso dabei ist die junge Autorin Irene Solà, in einem Dorf nahe der katalanischen Kleinstadt Vic aufgewachsen, mit ihrem beeindruckenden, am magischen Realismus orientierten Buch „Singe ich, tanzen die Berge“.

Er freue sich auf ein Ehrengast-Programm, „das die vielsprachige und vielstimmige Literatur und Kultur Spaniens von heute reflektiert“, sagt Juergen Boos, seit 2005 Direktor der Frankfurter Buchmesse. Dass es in Spanien derzeit viele junge Talente gebe, habe den Ausschlag gegeben, das Land erneut nach Frankfurt einzuladen, so Boos im Gespräch mit der MZ weiter.

Wirtschaftskrise und Entwurzelung

Ein weiteres Erfahrungsmerkmal, das die junge „#Generation22“ eint, sind die Wirtschaftskrise und deren Folgen, die Spanien ab 2008 heimgesucht und dazu geführt haben, dass viele junge Menschen, ähnlich wie ihre Vorfahren in den 1960er-Jahren, ihre Heimat verlassen mussten, um anderswo ihr Glück zu suchen. Auch hier geht es um Entwurzelung und Heimat, um prekäre Lebensverhältnisse und um Landflucht, wie etwa beim Roman „Bring mich nach Hause“ von Jesús Carrasco, beim sprachlich leider etwas manierierten Roman „Wir sind alle Widerlinge“ von Santiago Lorenzo oder beim Roman „Aufstand“ von José Ovejero, der eine Vater-Tochter-Geschichte inmitten von Gentrifizierung, Hausbesetzungen und linker Militanz thematisiert.

Und die Vergangenheit? Die ist noch lange nicht abgeschlossen. Im Gegenteil. War man in den Jahren nach Ende der Franco-Diktatur (1939–1975) noch bestrebt, die Wunden des Bürgerkriegs nicht noch einmal aufzureißen und im Sinne eines friedlichen Übergangs in die Demokratie (transición) über Leid und Schuld zu schweigen, ist das Thema in Gesellschaft und Politik heute virulent wie nie, die Spaltung des Landes ist tief. Viele jüngere Autorinnen und Autoren fangen an, Fragen zu stellen – etwa nach den Tausenden anonymen Massengräbern, in denen die von den Franquisten ermordeten und verscharrten Republikaner liegen – und diese literarisch zu verarbeiten. Aus einem gesellschaftspolitischen Trauma wird Literatur.

Stets präsent: „Der endlose Krieg“

So wie es die vergangenen November in Madrid im Alter von 61 Jahren verstorbene, politisch links engagierte Autorin Almudena Grandes schon lange getan hat. Aus ihrem auf sechs Bände angelegter Romanzyklus „Episodios de una guerra interminable“ („Episoden eines endlosen Krieges“), dessen letzter Band aufgrund ihres Todes unvollendet blieb, ist pünktlich zur Buchmesse der dritte Band auf Deutsch erschienen: In „Die drei Hochzeiten von Manolita“ geht es um den kommunistischen Widerstand in der Zeit nach der Machtergreifung Francos – und um Liebe und Familie in dunklen Zeiten.

Almudena Grandes wird vermisst und posthum gewürdigt in Frankfurt, ebenso der bereits 2020 verstorbene Bestsellerautor Carlos Ruiz Zafón („Die Schatten des Windes“) und auch Javier Marías, der im September kurz vor seinem 71. Geburtstag und fast zeitgleich mit dem Erscheinen seines nun wohl letzten Romans „Tomás Nevinson“ verstorben ist – allesamt Schwergewichte einer Branche, die sich in Frankfurt recht selbstbewusst präsentieren wird. Denn Spanien, von Sozialisten und der Linksallianz Unidas Podemos regiert, kleckert nicht in Sachen Kulturförderung. Die Messe sei eine große Chance für sein Land, aber auch eine große Herausforderung, hat Spaniens Kulturminister Miquel Iceta – nebenbei, er ist Katalane – im Juni bei der Präsentation des spanischen Programms in Frankfurt gesagt. Und weiter: „Ich bin überzeugt, dass unsere Präsenz in Frankfurt ein Meilenstein in der kulturellen Renaissance sein wird, die wir nach zwei Jahren Pandemie erleben werden.“

Umfangreiches Übersetzungsprogramm

Die staatliche Acción Cultural Española (AC/E), die ein Jahresbudget von rund 20 Millionen Euro hat und den Messeauftritt samt umfangreichen Kulturprogramm organisiert, habe allein von 2019 bis 2021 mit mehr als zwei Millionen Euro die Übersetzung von knapp 400 spanischen Titeln auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Niederländisch gefördert, berichtet Elvira Marco. Für das laufende Jahr gebe es ein weiteres umfangreiches Übersetzungsprogramm. Knapp hundert neue Titel aus Spanien haben es 2022 auf den deutschen Markt geschafft, knapp die Hälfte davon wurde mit Mitteln des spanischen Ministeriums für Kultur und Sport und der AC/E übersetzt. Übersetzungen brächten uns einander näher, so Marco weiter. Und das sei etwas, was man gerade in diesen Zeiten besonders brauche. Mit Werken von insgesamt rund 200 Autorinnen und Autoren tritt Spanien in Frankfurt an.

Am Dienstagabend (18.10.) also werden die Journalistin und Autorin Irene Vallejo, die mit ihrem schönen und lesenswerten Sachbuch „Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern“ zu Hause schon Erfolge feiert, und der altgediente Antonio Muñoz Molina, dessen melancholischer Lissabon-Roman „Warten auf Cecilia“ soeben auf Deutsch erschien, als Festredner den Auftritt Spaniens eröffnen. Ob man allerdings irgendwann einmal später wirklich von einer „#Generation22“ spricht, das allein wird die Geschichte zeigen.

Weitere Infos zu Spaniens Auftritt auf der Buchmesse unter: www.spainfrankfurt2022.com