Alien auf dem Galatzó: Was eines der "besten Alben des Jahres" mit Mallorca zu tun hat

Das Album „Ay!“ von Lucrecia Dalt wird weltweit von der Kritik gefeiert – und hat einen engen Bezug zu Mallorca

Multidisziplinäre Künstlerin: Lucrecia Dalt auf einem Pressefoto.  | FOTO: AINA CLIMENT

Multidisziplinäre Künstlerin: Lucrecia Dalt auf einem Pressefoto. | FOTO: AINA CLIMENT / Patrick Schirmer Sastre

Patrick Schirmer Sastre

Patrick Schirmer Sastre

Südamerikanische Rhythmen wie Salsa, Merengue, Bolero und Son – in die Länge gezogen, umgekrempelt und wieder neu zusammengebaut. Dies gepaart mit Science-Fiction-Klängen und einem außerirdischen Protagonisten namens Preta im Mittelpunkt: Das neue Album „Ay!“ der in Berlin lebenden, kolumbianischen Musikerin Lucrecia Dalt ist komplex. Eine musikalische Erlebnisreise, die zumindest bei der Kritik hervorragend ankommt. Das einflussreiche US-Magazin „Pitchfork“ wählte das Werk am Dienstag (6.12.) auf der Liste der besten Alben des Jahres auf Platz acht – noch vor den aktuellen Alben von internationalen Pop-Schwergewichten wie The Weeknd, Björk und Kendrick Lamar.

Alien auf dem Galatzó

Alien auf dem Galatzó / Patrick Schirmer Sastre

„Ay!“ hat enge Beziehungen zu Mallorca. Da ist zum einen der Song „El Galatzó“, benannt nach dem gleichnamigen Berg im Südwesten der Insel. Zum anderen sind da die Videoclips zu den Songs „Atemporal“, „Dicen“ und „No tiempo“, die auf der Insel von der mallorquinischen Fotografin und Filmemacherin Aina Climent gedreht wurden. Climent und Dalt kennen sich aus der Zeit, als beide in Berlin lebten. In den vergangenen Jahren pflegten sie eine lose Zusammenarbeit.

Am Anfang stand ein Film

Als Dalt während des Lockdowns im Frühjahr 2020 von einer Multimedia-Agentur aus Montréal den Auftrag bekam, einen Film zu drehen, kontaktierte sie Climent. Gemeinsam mit der Tänzerin Judit J. Ferrer und dem Philosophen Miguel Prado entwickelten sie in wochenlangen Videocalls das Konzept von „Pedis Possessio“. Darin geht es um eine außerirdische Lebensform, die auf die Erde kommt und sich hier in einen Stein zu verwandeln. Wenn Menschen mit diesem Stein in Kontakt kommen, wird ihr Bewusstsein für die Zeit verstärkt. „Eine wichtige Inspirationsquelle für das Drehbuch war das Buch ‚Mallorca màgica‘ des Journalisten Carlos Garrido“, erzählt Aina Climent im MZ-Interview. Garrido setzt sich darin mit Mystik und paranormalen Erscheinungen auf der Insel auseinander. Dalt sei fasziniert von den Geschichten gewesen, so Climent.

Der Film wurde im Sommer 2021 an verschiedenen Orten auf Mallorca und Menorca gedreht. Aina Climent führte Regie. Gezeigt wurde der 23-Minüter bei den Festivals CTM in Berlin und MUTEK in Montréal sowie beim Atlàntida Film Fest in Palma. Aktuell ist er beim Streamingdienst Filmin verfügbar. „Wir sind sehr zufrieden damit, wie viel Aufmerksamkeit er bekommen hat“, sagt die Regisseurin.

Die Gemeinsamkeiten

Musikalisch haben „Pedis Possessio“ und „Ay!“ wenig miteinander zu tun. Der Film lebt von sphärischen Klangteppichen. Das Album hingegen besteht aus abgeschlossenen Songs, die in verschiedene Stilistiken eintauchen. Aber thematisch und ästhetisch hat Dalt Elemente aus dem Film in das Albumprojekt hinübergerettet. Zum einen wäre da die Figur des außerirdischen Wesens Preta. Während es im Film von Judit J. Ferrer dargestellt wird, übernimmt Lucrecia Dalt auf dem Album selbst die Rolle.

Zum anderen ist da das Albumcover, das Dalt auf einer bläulichen Ebene zeigt. „Dies knüpft direkt an die Einstiegsszene in ‚Pedis Possessio‘ an“, erklärt Aina Climent. „Dort sieht man Preta, wie es sich durch ein mosaikartiges blaues Gebiet bewegt, das ein wenig wie der Himmel aussieht.“ Auf dem Albumcover hat Climent Dalt an demselben Ort in einer ähnlichen Pose fotografiert.

Und dann sind da noch die Videos. Ästhetisch knüpfen sie an „Pedis Possessio“ an. Die Clips sind, ähnlich wie der Film, untertitelt. Es sind Gesprächsfragmente, die parallel zum gesungenen Text die Geschichte erzählen. Im Video zu „No tiempo“ etwa, das auf der Halbinsel Formentor aufgenommen wurde, kommt Preta in Gestalt von Lucrecia Dalt auf der Erde an und begegnet einer Person. Das Gespräch der beiden, das durchaus absurde, humorvolle Elemente enthält, läuft nebenbei. Der Songtext selbst ist eine Art Mission Statement von Preta, das sich auf eine Reise gemacht hat.

Die Suche nach den Wurzeln

Mallorca ist auf „Ay!“ weniger Gegenstand der Erzählung als Schauplatz. Zumal das Album über die Hintergrundgeschichte hinaus noch eine weitere Ebene bietet. Dalt, so heißt es, habe sich nach Jahren im Ausland nach der Musik ihrer Kindheit in Kolumbien gesehnt. Die Einbeziehung von Salsa und Bolero ist ihr Versuch, nach all den Jahren diese Rhythmen für sich selbst neu zu entdecken, sie weiterzuentwickeln. Dabei verbindet sie elektronische Klänge mit klassischen Instrumenten wie dem Kontrabass, Klarinetten, Flöten und zahlreichen Percussion-Instrumente. Sie würfelt Genres zusammen, lässt Grenzen zerfließen.

Für das Magazin „The Wire“, das Dalt anlässlich des Albums eine Coverstory widmete, hat die Künstlerin eine Playlist mit Liedern zusammengestellt, die sie für „Ay!“ inspiriert haben. Neben zahlreichen lateinamerikanischen Künstlern wie Luis Albertí, José Antonio Méndez oder La Lupe finden sich hier Namen wie Tom Waits, John Lee Hooker, Duke Ellington, Lee Scratch Perry oder Harry Belafonte.

Für „Pitchfork“ vermittelt das Album die Atmosphäre einer verrauchten After-Hours-Lounge, wie man sie in einem Spionagefilm der 40er-Jahre erwarten würde. Das Album widerlege das westliche Stereotyp, dass Folklore aus anderen Teilen der Welt statisch in der Vergangenheit hänge. „Ay!“ beweise, dass sich die Klänge weiterentwickeln können.

Für Climent ist das Album auch die Chance, Dalt einem breiteren Publikum zu präsentieren. „In der Szene der elektronischen und der experimentellen Musik ist sie hingegen schon länger bekannt“, sagt die Mallorquinerin. Ob Lucrecia Dalt ihr Album, das so stark von Mallorca inspiriert ist, auch auf der Insel vorstellt, ist noch nicht bekannt. Zurzeit tourt sie durch Lateinamerika. Die nächste Gelegenheit, sie live in der Nähe zu erleben, gibt es erst Mitte Juni. Dann tritt die umtriebige Künstlerin im Rahmen des „Sónar“-Festivals in Barcelona auf.

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