So mauserte sich Mallorca Live zu einem der besten Musikfestivals in Spanien

Das Event lockt Einheimische und Urlauber – und ist mittlerweile spanienweit eine große Nummer. Auch wenn auf der Insel immer wieder darüber gemeckert wird

72.000 Menschen kamen vergangenes Jahr zum Mallorca Live Festival. In Zukunft sollen es weniger werden.  |         FOTO: PACO POYATO

72.000 Menschen kamen vergangenes Jahr zum Mallorca Live Festival. In Zukunft sollen es weniger werden. | FOTO: PACO POYATO / Patrick Schirmer Sastre

Patrick Schirmer Sastre

Patrick Schirmer Sastre

Es ist ein sich alljährlich wiederholendes Ritual. Sobald das Mallorca Live Festival anfängt, Künstler bekannt zugeben, die in der nächsten Ausgabe auftreten werden, wird eine bei den Mallorquinern ureigene Angewohnheit geweckt, die auf der Insel remugar genannt wird. Zu Deutsch: rummosern. Die auftretenden Künstler seien zu alt, zu jung, zu neu, zu verbraucht, zu sehr Reggaeton, zu sehr Mainstream oder – ein Klassiker – „von denen kennt man ja niemanden“. So zumindest der Tenor, der in sozialen Medien und persönlichen Gesprächen immer wieder auftaucht.

72.000 Menschen an drei Tagen

Voll wird es dann doch jedes Mal. Im vergangenen Jahr – zur ersten Ausgabe nach der Pandemie – kamen auf drei Tage verteilt insgesamt 72.000 Menschen in den ehemaligen Aquapark in Magaluf, wo das Festival seit seiner zweiten Ausgabe 2017 stattfindet. Und es ist nicht mehr nur auf Mallorca eine große Nummer, sondern auch spanienweit.

„Das Mallorca Live Festival gehört mittlerweile zu den zehn wichtigsten Festivals Spaniens“, sagt Joan Vich. Der Mallorquiner gilt als Experte der spanischen Festivalbranche. Über Jahre buchte er die Bands für das Festival Internacional de Benicassim, eines der ersten großen Festivals des Landes. Über die Erfahrung hat er kürzlich das Buch „Aqui vivía yo“ veröffentlicht. Auf Mallorca übernahm er die Künstlerbuchung beim kurzlebigen Solar Fest (2014–2016). „Der große Paukenschlag war, als das Mallorca Live Festival für die Ausgabe 2022 Muse angekündigt hat. Es war das einzige Spanienkonzert der Band in dem Jahr. Da haben sie den Aufstieg von einem regionalen Festival zum ernst zu nehmenden Player geschafft.

Hat es geschafft, ein Musikfestival auf Mallorca zu etablieren: Álvaro Martínez.  FOTO: MALLORCA LIVE FESTIVAL

Hat es geschafft, ein Musikfestival auf Mallorca zu etablieren: Álvaro Martínez. FOTO: MALLORCA LIVE FESTIVAL / Patrick Schirmer Sastre

Vorteile der Pandemie

Dass das Festival irgendwann in dieser Liga spielen würde, sei der Plan gewesen, sagt Álvaro Martínez. „Allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde.“ Der gebürtige Argentinier ist der Gründer und Geschäftsführer des Festivals. Die Pandemie sei in dieser Hinsicht gut genutzt worden. „Finanziell war es natürlich eine Katastrophe. Aber wir haben diese Pause genutzt, um uns neu aufzustellen.“ Das Festival wuchs von zwei auf drei Tage. Und es wurden weltweit bekannte Künstler geholt. Neben Muse waren das 2022 vor allem der spanische Rapper C. Tangana und die US-Sängerin Christina Aguilera. In diesem Jahr stehen die Chemical Brothers, die Black Eyed Peas und The Kooks ganz oben auf der Künstlerliste.

Es ist nicht das erste Mal, dass Martínez aus einer komplizierten Situation einen Nutzen schlug. Nach der ersten Ausgabe im Jahr 2016 sei der finanzielle Druck immens gewesen, wie er 2019 in einem MZ-Interview erklärte. Doch statt den Kopf in den Sand zu stecken, beschloss er, professioneller zu werden. Er verlegte die Schaltzentrale des Festivals nach Madrid. In der Hauptstadt tummeln sich die wichtigen Strippenzieher der Musikindustrie. Und es gibt auch eine gesunde räumliche Entfernung zur Vetternwirtschaft, die manchmal auf Mallorca herrscht oder zumindest vorausgesetzt wird. Das Ergebnis: Bei seiner zweiten Ausgabe war das Mallorca Live Festival kaum wiederzuerkennen. Statt vor die drei Bühnen auf der Betonbrache Son Fusteret in Palma betrat man in Magaluf plötzlich ein Festivalgelände, das diesen Namen verdiente.

Mit den Jahren kamen immer bekanntere Bands. 2017 war Placebo einer der Headliner, 2018 spielten The Prodigy wenige Monate vor dem Tod von Sänger Keith Flint. 2019 stand Jamiroquai auf der Hauptbühne. Hinzu kamen viele andere Künstler von der Insel, vom Festland oder aus anderen, vornehmlich europäischen und südamerikanischen Ländern.

Die Suche nach der Masse

Für Martínez war von Anfang an klar, dass ein Festival auf Mallorca nur gelingen kann, wenn man eine breite Masse an Menschen verschiedener Herkünfte anspricht. 60 Prozent der Besucher kommen von der Insel, der Rest vom Festland und aus dem Ausland. „Die Situation ist nicht vergleichbar mit den großen Metropolen wie Barcelona oder Madrid, wo man ein Festival ausrichten kann, das Fans einer reduzierteren Musikrichtung anspricht.“ Also setze er auf die Mischung aus großen, weltbekannten Künstlern, die eine lange Karriere hinter sich haben – und neueren Bands, die vielleicht eher dem Zeitgeist entsprechen.

Der Vorteil der Vielfalt

Der Musikjournalist Yayo Álvarez, der bei den ersten Ausgaben des Mallorca Live Festival die Pressearbeit machte, bestätigt: Das Programm des Festivals sei wie die Schublade eines Schneiders – bunt gemischt und für jeden etwas dabei. „Man kommt wegen der Gruppen, die man kennt, und schaut sich die anderen aus Neugier an.“ Und auch der Festivalexperte Joan Vich attestiert dem Inselevent eine musikalische Vielfalt, die man nur selten bei den Festivals auf dem Festland antreffe. Anders könnte man sagen: Das, was die Musikpuristen immer wieder am Festival kritisieren, hat sich im Laufe der Jahre als Erfolgsrezept herausgestellt.

Dabei widersetzen sich Martínez und seine Mitstreiter bislang einem Trend, der sich in den vergangenen Jahren bei den Festivals in Spanien etabliert hat: die Monopolisierung. Fast alle großen Events des Landes gehören einem Bericht der Online-Zeitung „eldiario.es“ zufolge zu internationalen Firmenkonglomeraten: Superstruct, Live Nation und Yucaipa Companies. Das Mallorca Live Festival ist hingegen noch eigenständig. „Auch wenn wir seit Jahren mit Live Nation kooperieren“, wie Martínez erklärt. Inwieweit sich das Unternehmen langfristig bei dieser Konkurrenz behaupten kann, bleibt abzuwarten.

Die Hilfe der Politik

Ein wesentlicher Faktor für den Erfolg von Mallorca Live dürfte auch die Politik gewesen sein. Gleich sieben Logos von verschiedenen Institutionen der Zentralregierung, der Balearen-Regierung, des Inselrats und der Gemeinde Calvià prangen als Unterstützer auf dem diesjährigen Festivalplakat. Als die Festivalleitung im März auf einer Pressekonferenz die wirtschaftlichen Auswirkungen des vergangenen Jahres vorstellte, rissen sich die anwesenden Politiker darum, die Vorteile des Events für Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Tourismus und Kultur der Insel hervorzuheben.

Allen voran Alfonso Rodríguez, Bürgermeister der Gemeinde Calvià. Er erzählte wortreich von seiner Skepsis, als ihm vorgeschlagen wurde, das Festival nach Magaluf zu bringen. Aber er habe schnell gesehen, dass dies eine einzigartige Möglichkeit sei, die Qualität des Angebots in der britischen Urlauber- und Partyhochburg zu verbessern.

Diese Unterstützung ist nicht unbedeutend. Denn andere Festivals auf der Insel sind daran gescheitert. Als eindringlichste Warnung aus der Vergangenheit gilt hier das Isladencanta, das Anfang der Nullerjahre Künstler wie Oasis und Iggy Pop auf die Insel brachte. Und nach nur drei Jahren einpacken musste, nicht zuletzt weil die Behörden weitere Ausgaben immer wieder mit Auflagen torpedierten.

Phase der politischen Stabilität

Allerdings ist das Mallorca Live Festival auch in einer seltenen Phase der politischen Stabilität groß geworden. Seit das Festival 2016 erstmals stattfand, hat es keinen Regierungswechsel gegeben. Ein Umstand, der unter anderem auch dem Atlàntida Film Fest zugutekam. Dass sich bei einem Regierungswechsel bei den Wahlen Ende Mai etwas daran ändern wird, glaubt Martínez nicht. Dafür seien die wirtschaftlichen Vorteile zu groß.

Bei der Pressekonferenz im März hatte Martínez mittels einer Studie der Consultingfirma Sound Diplomacy vorgerechnet, dass für jeden Euro, den die öffentlichen Stellen in das Festival investiert hatten, 18,03 Euro an Umsatz für die örtliche Wirtschaft herausgesprungen war. Das ist eine Sprache, die jeder Politiker versteht, egal, welcher Partei er angehört.

Qualität statt Quantität

In gewisser Weise hat der Argentinier auch die Sprache der Inselpolitiker angenommen. So will er in den kommenden Jahren eher auf Qualität statt auf Quantität setzen. „Langfristig wollen wir die Besucherzahlen senken. Im besten Fall sollen in ein paar Jahren 20.000 Zuschauer pro Tag kommen.“

Das Festivalgelände, ähnlich wie die Insel, ist in seinen Dimensionen beschränkt. Martínez und sein Team planen daher, den Erlebniswert des Festivals zu erhöhen – sprich: bessere Künstler, hochwertigeres Angebot vor Ort. Dadurch lässt sich der Preis dann etwas erhöhen, was wiederum eine Reduzierung des Publikums möglich macht. Ein erstes Gefühl dafür sollen die Zuschauer schon in diesem Jahr bekommen, verspricht Martínez. Die ganze Deko etwa sei komplett neu konzipiert worden.

Für Álvaro Martínez ist Coachella das große Vorbild. Das Event in der kalifornischen Wüste gilt als eines der wegweisenden Musikfestivals der Welt. Es sind große Worte. Aber manchmal funktioniert so etwas eben schneller, als man denkt. Auch wenn dann auf der Insel wieder kräftig remugiert wird.