Walter Smerling schreitet, laut mitzählend, in drei großen Schritten die Wand in der Kunsthalle ab – wie ein Pirat, der einen vergrabenen Schatz lokalisiert. Er nickt zufrieden: Offenbar passt jetzt der Abstand zwischen zwei Bildern. Im Ausstellungsraum des CCA Andratx herrscht an diesem Nachmittag hektischer Betrieb. Der aus Deutschland eingeflogene Kurator lässt sich umhertreiben, pappt Klebestreifen fest, denkt laut und verlangt nach mehr Licht. Gleich einem Orchester-Dirigenten lenkt er sein fünfköpfiges Montage-Team, das sich wie in einer perfekt einstudierten Tanzchoreografie bewegt.

„Es ist ein Vergnügen, ihm beim Arbeiten zuzusehen“, sagt die nicht von seiner Seite weichende Jackie Herbst, selbst Kuratorin, Koordinatorin und Multitasking-Genie im CCA. „Die Bilder dieser Ausstellung zu kombinieren, ist nicht einfach. Aber er kennt die Werke perfekt.“ Smerling ist Vorsitzender der Stiftung für Kunst und Kultur in Bonn und Gründungsdirektor des MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst in Duisburg. Und die Ausstellung, die er zur Nit de l‘Art bis zum 27.11. nach Mallorca bringt, ist ein echter Knüller: „Insights – Art from the NATIONAL BANK Collection“ mit über 90 Werken hochkarätiger deutscher Künstler.

Hochkonzentriert: Kurator Walter Smerling in Aktion. Nele Bendgens

Vom Ruhrgebiet auf die Insel

Anlass der Schau: das 100-jährige Bestehen der National-Bank mit Sitz in Essen, die großen Wert auf Kunstförderung legt und viele Ausstellungen im Ruhrgebiet sponsert. Bis zum 22.8. war „Einblicke“ mit großem Erfolg im MKM zu sehen. „Uns ist aufgefallen, dass viele Mitglieder der Stiftung Kunst und Kultur auf Mallorca leben und dachten, es wäre sinnvoll, wenn wir die Ausstellung an einem zweiten Ort zeigen“, erklärt Walter Smerling in einem ruhigen Moment. Schon aus ökonomischen Gesichtspunkten lohne sich die Arbeit somit doppelt. Und es sei höchste Zeit gewesen, nach langer Pause wieder ein Projekt auf der Insel umzusetzen: In früheren Jahren hatte die Stiftung hier insgesamt fünf bedeutsame Ausstellungen realisiert, aktuell führt sie Gespräche mit der Stadt Palma über Kunst im öffentlichen Raum.

Eine Schau von einer Größenordnung wie „Einblicke“ nach Mallorca zu wuchten, sei dank professioneller Logisikunternehmen heute keine große Sache mehr. Einzig das knappe Zeitfenster habe eine Herausforderung dargestellt: „Das muss man gut organisieren, und vor allem eins sein: verlässlich und pünktlich. Das Verpacken der Werke, das Transportieren – alles muss Hand in Hand gehen“, sagt Smerling. Inhaltliche Anpassungen an die Räumlichkeiten in Andratx waren indes nicht nötig, bis auf eine Ausnahme: Die monumentale „Large Standing Figure“ von Tony Cragg sprengt den Rahmen der nur vier Meter hohen Kunsthalle. Dafür gibt es nun Zeichnungen des Künstlers als Ersatz.

Detail einer Wandkissenarbet von Gotthard Graubner. Nele Bendgens

Von Schülern und Lehrern

Smerling ist dankbar, dass die National-Bank ihm bei der Auswahl der Werke freie Hand ließ. „Ich hatte Einblick in die gesamte Sammlung und habe mich im Wesentlichen auf die Künstler konzentriert, die an der Düsseldorfer Akademie studiert oder unterricht haben“, erklärt er. Sie ist eine der wichtigsten Akademien weltweit und hat großen Einfluss auf die Kunstszene in Deutschland und darüber hinaus: Unter anderem Beuys und viele seiner Schüler haben dort Kunstgeschichte geschrieben, ihr Ruhm hallt bis heute nach.

Der Kurator wählte aus seiner Sicht repräsentative Schlüsselarbeiten der einzelnen Künstler aus. Die Schwierigkeit bei der Ausstellungsgestaltung bestand nun darin, unterschiedlichste Formate und Werkgruppen sinnvoll zu einer Einheit zusammenzufügen: Jeder Künstler habe seine eigene Handschrift und seine Unabhängigkeit, er wirke für sich selbst, aber auch im Zusammenspiel. „Es muss harmonieren. Die Ausstellung muss wie ein Film laufen und etwas erzählen“, so Smerling.

Eine zentrale Handlung sind die vielen Beziehungsgeschichten der Künstler untereinander, die durch die Betrachtung der Werke live und in Farbe nachvollziehbar werden. Als Beispiel nennt der Kurator die im vorderen Bereich der Ausstellung in Sichtweite zueinander gehängten Arbeiten von Gotthard Graubner und seiner Schülerin Katharina Grosse: „Da sehen Sie, was mit der Malerei passiert ist: Aus dem geordneten Graubnerschen System der Farbgestaltung am Objekt ist plötzlich eine Explosion geworden.“ Graubner, dessen sanft kolorierte Wandkissenarbeit Meditation und Ruhe versprüht, verleitete Grosse nicht etwa dazu, ihm nachzueifern, sondern ermutigte sie, den eigenen künstlerischen Weg mit ihrer charakteristischen Spritzpistolen-Technik einzuschlagen: Das Werk „o.T.“ (2018) überwältigt mit seiner Intensität und Dynamik.

"o.T." von Katharina Grosse, im Hintergrund: "Farben der Erinnerung Exterieur II und III" von Ulrich Erben Nele Bendgens

Noch eine Art der Farbauffassung erfahren Besucher bei Ulrich Erben, ebenfalls Professor an der Kunstakademie Düsseldorf und einer der bedeutendsten Vertreter der Farbfeldmalerei und der Konkreten Kunst. Seine als „Farben der Erinnerung“ titulierten Bilder sind vor Grosses Gemälde stehend bereits aus dem Augenwinkel erkennbar, entfalten ihre ganze Strahlkraft aber in der direkten Kontemplation: Die Kombination aus gedeckten Erd- und Wassertönen beschwört die Erfahrung verschiedener Landschaften herauf, die auf den Künstler einwirkten und dem Werk eine Bedeutung über die reine Abstraktion hinaus verleihen.

Daneben zündet eine Arbeit des 1983 geborenenen Malers David Czupryn ein visuelles Feuerwerk an der Zwischenwand. Walter Smerling schwärmt vom Werdegang des jungen Künstlers: Czupryn besuchte die Hauptschule und absolvierte dann eine Schreinerlehre. Auf Drängen seines Meisters bewarb er sich bei der Kunstakademie, glänzte bei einer Sonderbegabtenprüfung und machte seinen Abschluss. „Jetzt ist er dieser fantastische, surrealistische Maler, der mit vielen Künstlern korrespondiert“, so der Kurator. Wer genau hinsieht, entdeckt in Bilddetails versteckte Hommagen an Jörg Immendorff, Max Ernst, Bruce Nauman oder Imi Knoebel: ein ideales verknüpfendes Element innerhalb der Ausstellung.

Filigrane Arbeiten auf Papier

Einen Schwerpunkt der Sammlung der National-Bank bilden Arbeiten auf Papier. Im Ausstellungskatalog begründet der Bank-Vorstand Thomas A. Lange diese Entscheidung unter anderem mit der natürlichen Affinität seiner Zunft zu diesem Werkstoff. Logisch: Ein Geldinstitut arbeitet eben gerne mit Papier. So glänzt „Einblicke“ nicht nur mit farbenfrohen Gemälden und Skulpturen wie einer kleineren Arbeit von Tony Cragg oder den grob gehauenen Holzplastiken von Stephan Balkenhol, sondern auch mit einer Vielzahl von Zeichnungen, die oft als Serien innerhalb der Kunsthalle eigene Räume zugewiesen bekommen.

"Spur I", Zeichnungen von Joseph Beuys Nele Bendgens

Ganz hinten gibt es etwa einen Bereich für Siegfried Anzingers hochaktuellen, virtuos gezeichneten Zyklus „Flucht“ (2018). Der Nebenraum ist hingegen ganz einer Reihe filigraner Arbeiten von Joseph Beuys gewidmet. Für den damals 18-jährigen Smerling war die erste Begegnung mit Beuys bei einer öffentlichen Veranstaltung bahnbrechend: „Er hat mich fasziniert. Ich war gerade in einer Banklehre, ein junger Typ mit Krawatte und Anzug“, erzählt er. „Dann seh ich da plötzlich nachmittags einen Beuys mit Hut und Anglerweste, der erklärt, dass die Gesellschaft eigentlich eine soziale Plastik ist, die jeder mitzugestalten aufgefordert ist. Kreativität sei das Volksvermögen, nicht Kapital. Da kommt man ins Denken.“ Bei den hier gezeigten Werken könne man sehen, dass Beuys ein fast wissenschatlich arbeitender Künstler war, der sich intensiv mit Flora und Fauna beschäftigt hat. „Er zeichnet das Leben, aber auf abstrakt-realistische Weise.“

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Zwischen Zwei- und Dreidimensionalität bewegt sich der umfangreiche Werkzyklus von Markus Lüpertz: Er enthält zeichnerische Vorstudien und plastische Entwürfe (Bozzetti) zu seinem expressiven Skulpturen-Koloss „Uranos“ am Theaterplatz in Essen vor der National-Bank, zum Ende des Kohlebergbaus in der Region. Das Ensemble lenkt den Blick auf Details und verhilft dem Betrachter zu einem tieferen Verständnis der Skulptur. Wer weniger analysieren und mehr ästhetisch genießen möchte, hat jedoch ebenfalls den Segen des Kurators. Smerling sagt: „Ich wollte keine kunsthistorische Abhandlung machen, sondern einen Einblick in die Dichte dieser Sammung geben.“

Der Markus Lüpertz gewidmete Raum in der Aufbauphase Nele Bendgens