Ein sanft gerundeter Krug wird mehrmals mit flüssigem Ton gefüllt. Plötzlich bilden sich kleine Risse im Material, die immer größer werden: Die Masse dringt durch die Öffnungen und ergießt sich nach außen, als würde das Gefäß alle Spannung loslassen, ausatmen, mit einem unhörbaren Seufzer der Erleichterung nachgeben.

Diese Szene stammt aus einem Video von Tarek Serraj über den Arbeitsprozess der Künstlerin Anastasia Egórova. Neben einer Auswahl an Keramikskulpturen und Fotografien wird das Video Teil ihrer Ausstellung sein, die am 3. Dezember auf Will Kauffmanns Kulturfinca Son Bauló eröffnen wird.

Das zwischen 2017 und 2018 entstandene experimentelle Projekt mit dem Titel „Surrender“ hatte Egórova 2018 schon einmal im s’Escorxador in Marratxí präsentiert. Seit 2005 lebt die gebürtige Russin, die neben Keramik auch Schmuck kreiert und fotografiert, auf Mallorca.

Die Formen verleihen dem Innersten Ausdruck

Beim MZ-Besuch in ihrem Atelier in Manacor, das sie sich noch mit anderen Künstlerinnen teilt, erklärt sie, warum ihre Werke weit mehr als zerbrochenes Geschirr sind. Die aufgelösten Formen voller Anmut und Intensität verleihen dem Innersten Ausdruck: „Am Ende gibt sich das Objekt hin und verwandelt sich in etwas anderes. Das habe ich zu meinen persönlichen Prozessen in Bezug gesetzt.“

Nach zwölf Jahren im Hotelgewerbe spürte die Künstlerin, dass die Zeit für einen Umbruch gekommen war: Sie wandte sich ganz der kreativen Arbeit zu, die sie bis dahin nebenbei betrieben hatte, und beendete zeitgleich eine Beziehung. Ihre Arbeiten spiegeln die Entscheidung wider, sich dem Fluss des Lebens hinzugeben, statt sich Veränderungen zu widersetzen.

Sie fertigt die speziellen Stücke auf der Töpferscheibe und füllt diese im noch feuchten Rohzustand mit flüssiger Tonmasse. Das Objekt „trinkt“ das darin enthaltene Wasser, bis es an die Grenze seiner Kapazität stößt und zusammenbricht. „Ich werde zur stillen Beobachterin und greife dann nicht mehr ein“, sagt Egórova. „Das Werk erschafft sich selbst.“

Dasselbe Konzept wie bei einer Meditation

Obwohl sich die Künstlerin inzwischen in einer anderen Lebensphase befindet als vor drei Jahren, fühlt sich das Projekt für sie genauso aktuell an: „Das ist ein Prozess, in dem wir uns immer befinden, weil wir uns die ganze Zeit verändern.“ Auch das Projekt selbst nahm andere Formen an: Frühe Arbeiten sind koloriert, während die Künstlerin später auf Schwarz, Weiß und Grau setzte. Wie bei Fotografien wollte sie damit den Fokus stärker auf die Formen legen.

Unter vielen Skulpturen ohne speziellen Titel sticht eine hervor, die Egórova „Mom, Dad, me“ nannte. „Manchmal habe ich im Vorfeld Rollen zugewiesen“, erklärt sie. „Hier wollte ich ein bestimmtes Gespräch inszenieren, das wir vor 20 Jahren hatten.“ Egórova wollte mit dem Vater ihres ersten Kindes zusammenleben, ohne ihn zu heiraten, woraufhin es zum Zerwürfnis mit ihren Eltern kam. Dieses Erlebnis floss direkt in die Form der drei Schalen: Auch sie sind verbunden und zugleich durch harte Brüche voneinander getrennt.

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Egórovas Konzept ist dasselbe wie bei einer Meditation, in der man aufkommende Gedanken zwar zur Kenntnis nimmt, aber nicht bewertet. Passende philosophische Zitate schmücken die Ausstellungsbroschüre. Egórova räumt ein, dass wohl nicht jeder mit ihrer tiefgründigen Keramik etwas anfangen kann. Dass Will Kauffmann sich dafür begeistern würde – sie hatte ihn über Freunde aus Deutschland kennengelernt –, sei ihr jedoch schnell klar gewesen: „Als ich auf seiner Visitenkarte ‚Fotograf und Philosoph‘ las, dachte ich: Er wird es bestimmt verstehen.“

Vernissage: 3. Dezember, 17 Uhr, Ausstellung bis 31. Januar 2022, täglich 10–16 Uhr, mit Anmeldung (Tel.: 971-52 42 06, son-baulo@son-baulo.com), Kulturfinca Son Bauló, Camí de Son Bauló, Lloret de Vistalegre. Preisspanne der Werke: 500–6.000 Euro.