Es ist der 24. Dezember. Heiligabend. Fest der Liebe und Geschenke. Zumindest für einen Großteil der Deutschen. Oder zumindest, seit ich denken kann, für unsere Familie. Zumindest jedenfalls seit acht Jahren für meine Frau, meine drei Kinder und mich hier auf Mallorca. Dachte ich … bis vor einer Woche.

Wie aus dem Nichts offenbarte mir meine Frau Svenja, dass nun alles anders sei, dass sie sich neu verliebt habe und dass sie dieses Jahr Heiligabend mit unseren drei Kindern und Milan verbringen möchte. Milan? Wer zum Teufel ist Milan? Habe ich irgendetwas falsch gemacht oder etwas verschlafen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich seither in meiner Bar schlafe und über Vertrauen, Versäumnisse und das Vermissen nachsinne.

Da ich meine drei Kleinen seit der Offenbarung meiner Frau nicht mehr gesehen habe, nahm ich ihr Auftrags-Angebot an, mich Heiligabend tagsüber um die Kinder kümmern zu dürfen, damit sie für den Abend ein sinnliches Fest vorbereiten kann.

Ich wollte den dreien etwas Tolles bieten, damit sie in Zukunft doch noch mal nach ihrem Papa fragen, den sie laut Svenja überhaupt nicht vermissen.

Wir fuhren also los - generalstabsmäßig ausgestattet von Svenja mit allen erdenklichen Ersatz-Windeln, Ersatz-Kleidung, Ersatz-Pupus (familieneigener Name für Fläschchen), Ersatz-Chupetes (aus dem Spanischen übernommen für Schnuller), mit Keksen, Schokolade und Getränken, Richtung Sóller ging es, zum Kinder-Weihnachtsfest, von dem ich zuvor noch nie etwas gehört hatte. Schon beim Losfahren rief meine zweieinhalbjährige Paula: „Kinnerlieda.“ Auch wenn ich genau wusste, dass meine Frau DIE Kinderlieder-CD eingepackt hatte, legte ich die von mir neu gekaufte mallorquinische Weihnachtslieder-CD ein. Leider kein Volltreffer. Keiner konnte mitsingen, und alle waren schon beim Herausfahren aus Colònia de Sant Pere zur Hauptstraße Richtung Alcúdia knatschig. Schnell legte ich aus dem Care-Paket meiner Frau die allseits bekannten Kinnerlieda auf und sang als Lautester „Alle meine Entchen“.

„Duaast“, unterbrach mich sehr schnell mein Ältester: Danny, fünf Jahre alt. Ich reichte ihm aus dem Care-Paket meiner Frau die Wasser-Flasche, um seinen „Duaast“ zu löschen. Nur Jordi eineinhalbjährig - war mit „Hoppe Hoppe Reiter“, seiner Pupu und dem surrenden Motorgeräusch sichtlich zufrieden.

Da die Kinder ihren Papa und die Situation nun fest im Griff hatten, war ich immerhin noch für die Route vom Norden der Insel bis tief ins Tramuntana-Gebirge nach Sóller zuständig. Da es einer dieser wunderbaren Dezembertage auf Mallorca war, an denen die Sonne schon morgens milde Temperaturen bescherte, zog ich - ohne meine Kinder zu fragen - die gemütliche Landstraßen-Tour der langweiligen autopista vor. Dauert zwar länger, aber man genießt mehr … Dachte ich. Denn ich hatte die Rechnung ohne meine Kinder und ohne Weihnachten gemacht. Denn erst in den nächsten 60 Minuten sollte ich feststellen, wie wenig ich über Weihnachten wusste.

„Papaaaa? Warum bringen denn die reyes católicos die Geschenke nach Colònia?“ „Schegenke Olonia“ hallte Paula wie immer nach. Diesmal auf die berechtigte Frage von Danny.

„Ist doch toll“, antwortete ich, „bekommt ihr zweimal Geschenke. Einmal vom Weihnachtsmann und einmal von den drei Königen.“ Zufriedene Stille. „Papaaaa? Wieso kommen die reyes católicos denn erst im Januar?“ „Ääs ien Nuar?“ Zum Glück wiederholt Paula ständig den letzten Teil. So blieb mir ein wenig Bedenkzeit. „Weil sie zu spät zur Geburt von Jesus Christus gekommen sind“, antwortete ich. „Das Wetter war schlecht, und sie konnten den großen Stern nicht mehr sehen, der über Jesus leuchtete.“

„Welcher Stern?“ „Schschtän?“ (Paula nimmt einfach nie den chupete raus beim Reden …). „Der größte, den es gibt“, sagte ich, und beschrieb zur Untermalung mit meinen beiden Armen diesen enorm großen Stern. „Damit alle Menschen wussten, dass Jesus unter diesem Stern geboren wurde.“ „Wo ist der Stern jetzt?“ „Schschtän jesst?“ Das war leicht zu beantworten: „Es ist doch hell. Sterne scheinen nur im Dunkeln“, regte ich zur Überlegung an. „Haben sich die reyes católicos am Tag verlaufen?“ Das war schwierig zu beantworten: „Nein, am Tag haben sie Pause gemacht und ihre Kamele gefüttert.“

Ich hoffte, dass meine weihnachtlichen Weisheiten und alles, was ich über Kamele erzählen musste, von den Kleinen nicht als Papas Wissen öffentlich gemacht und Svenja nicht zu Ohren kommen würde.

Erst recht sollte niemals meine Antwort auf folgende Frage öffentlich werden: „Papaaaa? Warum heißt der Weihnachtsmann auf Mallorca denn papa Noel?“ „Papa Noel?“, wiederholte Paula nuschel- und akzentfrei. Den kennt wohl auch das kleinste Kind. Ich musste schmunzeln und verliebte mich wieder einmal in meine Tochter, sah im Rückspiegel Jordi mit der Pupu und sah Danny. Ich hatte den Eindruck, er versteht alles. Ich musste schmunzeln und verliebte mich wieder einmal in meinen Jüngsten. „Papa los, sag schon!“ Ich plauderte drauf los: „In Spanien sagen alle Leute Papa zum lieben Gott. Als sie den Weihnachtsmann das erste Mal gesehen haben und von ihm Geschenke bekamen, dachten alle, dass das der liebe Gott -„Papa“ - sei. Aber in der Kirche hat man ihnen gesagt, dass nicht er der liebe Gott sei, was übersetzt No él heißt. Aber da sich alle Menschen doch über die Geschenke freuten, blieb er für sie weiterhin der Papa mit dem Zusatznamen Noel.“ Ich fantasierte vor mich hin. Die Kinder glaubten mir.

Aber mich ärgerte meine weihnachtliche Unwissenheit. Ich kam so langsam ins Schwitzen und verkürzte die Fahrt- und Fragezeit, indem ich in Inca dann doch auf die autopista fuhr. Nach diversen Keks- und Schokoladenverabreichungen, und allerlei - nutzlosen - Hinweisen auf die schöne Natur, konnte ich eine gewisse Vorfreude auf die bevorstehende Zugfahrt erzeugen. Schon bald erreichten wir Bunyola. Die alte Holzeisenbahn fuhr in den Bahnhof ein, und endlich spürte ich so etwas wie Abenteuerlust und Spaß bei den Kindern.

Wir erwischten zum Glück nicht den Touristenzug, so dass ich mich für das letzte Abteil entschied, in dem kein weiterer Fahrgast anzutreffen war. So hatten Danny und Paula jeder einen Fensterplatz, Streit kam gar nicht erst auf. Die Aufregung stieg, als sich der Zug in Bewegung setzte. Um noch ein wenig mehr Spannung in die Angelegenheit zu bringen, erzählte ich ihnen von den dunklen Tunneln, durch die wir fahren würden. In ihren großen Augen erkannte ich plötzlich einen Funken Angst, so dass ich mir überhaupt nicht mehr so sicher war, ob das ein geschickter Schachzug von mir war.

Wir näherten uns dem ersten Tunnel, und nun geschah etwas Unglaubliches: Die Kinder wurden vollkommen still, und mir fuhr der Schreck in die Seele. Am Ende unseres Abteils saßen Jesus Christus, der Teufel und Papa Noel. Der Teufel holte ein Kartenspiel heraus, woraufhin das unglaubliche Trio Karten zu spielen begann. Ich zog meine drei Kleinen fest an mich, umklammerte sie und legte meinen Körper schützend um sie.

„Aua!“, schrien meine Kinder, als wir auch schon wieder aus dem Tunnel herausfuhren. „Was ist los, meine Süßen? Alles in Ordnung bei euch? Sagt doch was!“ Ich wurde panisch. Das Zocker-Trio war weg.

„Blöder Scherz“, blaffte mich Danny an. „Das war kein Scherz, mein Schatz, ich weiß auch nicht, wo die drei nun sind, wo sie herkamen, was sie machen. Glaub mir. Ich bin total überrascht.“ „Blöder Scherz“, wiederholte Danny, während Paula und Jordi bitterlich weinten. „Wir drei wollen doch nur Zug fahren. Da musst du uns doch nicht erschrecken.“ „Hab ich doch gar nicht, mein Liebling …“ „Doch hast du“, unterbrach mich Danny garstig. „Und uns allen ganz doll weh getan.“

Die Kinder schienen von den dreien nichts mitbekommen zu haben. Spinne ich denn? Ich hab ganz deutlich den Teufel, Papa Noel und Jesus gesehen. Sah den bösen Blick des Teufels auf meine Kinder gerichtet und glaubte auch, Jesus‘ warmes Lächeln beim Aufnehmen der Karten erkannt zu haben. War es eine wirre Vision? Ich versuchte die beiden Kleinen zu beruhigen und entschuldigte mich bei Danny, der meine Entschuldigung trotzig ablehnte und mir diesen Vorfall auch im weiteren Verlauf der Fahrt durch demonstrative Abneigung zum Vorwurf machte.

Zu allem Überfluss fand das Kinder-Weihnachtsfest in Sóller nicht statt, weil es noch nie stattgefunden hat. „Dieses Fest existiert gar nicht“, gab man mir verwundert zu verstehen. Von wem ich denn diese merkwürdige Information hätte, fragte man mich mitleidig. Das fragte ich mich langsam auch, außerdem zwang sich die Frage nach einem Alternativprogramm immer drängender auf.

Bis auf einen großen Spielplatz hat Sóller nicht besonders viel für Kinder zu bieten. Immerhin konnten Paula, Jordi und ich uns dort fröhlich und ausgelassen die Zeit vertreiben. Danny schmollte weiter vor sich hin. Das ausgefallene Fest verbesserte seine Laune nicht wirklich. Was mich jedoch am meisten irritierte, war sein fehlendes Schmunzeln, dieses Schmunzeln, das er eigentlich immer zur Schau stellte, auch wenn er schmollte. War es vielleicht doch keine Vision im Tunnel? Hatte der Teufel das Spiel - und die Seele Dannys gewonnen? Hatte er vielleicht zuvor sogar die Seele meiner Frau gewonnen? Blödsinn! Absoluter Quatsch! Danny hat heute keinen guten Tag erwischt, und für mein Eheproblem wird sich eine einvernehmliche Lösung finden, beruhigte ich mich auf dem Rückweg zum Bahnhof und fand zur realen Welt zurück.

Trotzdem spürte ich beim Einsteigen in den Zug eine merkwürdige Unruhe in mir aufsteigen. Wieder saßen wir alleine im Abteil. Der Zug und meine Unruhe nahmen an Fahrt zu, und wir fuhren auch schon bald in den ersten Tunnel ein. Ich schloss die Augen: Bitte, bitte lass uns heil durch diese Tunnel kommen, flehte ich. Ich öffnete die Augen …

Da saßen sie wieder. Die Fratze des Teufels ließ mich das Schlimmste erahnen und schon spürte ich ein entsetzliches Zucken im Körper meiner kleinen Paula. „Nein, was tut ihr bloß?“, schrie ich laut auf. Mein Entsetzen aus dem Tunnel nahm ich mit ans Tageslicht und sah in die verdutzten Gesichter meiner Kinder. Paula schrie auf und weinte und weinte. Jordi schloss sich dem bitterlichem Weinen an. Danny maulte: „Hast du nun davon! Wieso erschreckst du uns auch so? Wir haben doch nichts getan!“ „Ich meinte euch doch auch gar nicht“, gab ich zurück. Und grübelte. Überließ ich etwa durch meine Visionen dem Teufel die Seelen meiner Kinder? Paula schrie immer noch, Jordi hatte sich beruhigt, und ich war panisch vor Angst, als wir in den nächsten Tunnel einfuhren.

Sie saßen schon wieder da.

Doch dieses Mal versuchte mich Jesus durch eine Handbewegung zu beruhigen, und Papa Noel zwinkerte mir verschwörerisch zu. Was ich dann sah, konnte ich kaum glauben. Der Weihnachtsmann zog heimlich eine Karte aus seinem roten Mantelärmel hervor und steckte sie geschickt Jesus zu. Jesus spielte die Karte cool aus. Rauch stieg aus den Nasenlöchern des Teufels, beim Aufstehen schmiss er den Tisch um. Der Teufel hatte offensichtlich verloren - und ich hoffentlich meine verlorenen Kinder zurück.

Aber hatte ich das wirklich gerade gesehen? Der Weihnachtsmann und Jesus betrügen den Teufel beim Kartenspielen? Egal - Hauptsache, ich hatte meine Kinder wieder, was durch das schelmische Grinsen der beiden Schummler und ihrer Freude über den Sieg über den Teufel wohl sicher war.

Wir fuhren aus dem Tunnel heraus, und mein Blick fiel sofort auf die Kleinen. Sie waren eingeschlafen, sahen friedlich aus. Danny hatte sein Schmunzeln wieder, das er sogar im Schlaf zeigte. Ich sah ihn lange an, atmete tief durch. Als wir aus dem Zug aus- und in das Auto einstiegen, schliefen die Kinder fest. Und so blieb es die gesamte Rückfahrt.

Das war die Gelegenheit, mir das surreale Bild von den drei Zockern immer wieder vor Augen zu führen. Wie ließen sich solche Visionen erklären? Ich entschied mich, das Erlebte als Wink des Schicksals zu sehen und fortan aufmerksamer und offeneren Auges durch den Alltag zu gehen. Und vor allem niemals, niemals mehr meine Familie aus dem Blick zu lassen! Sie zu behüten und zu beschützen. Und ich war fest entschlossen, Svenja um ein klärendes, versöhnendes Gespräch zu bitten.

Zu Hause angekommen, nahm mich überraschend meine Frau liebevoll in die Arme. Sie gestand mir, ihre Geschichte erfunden zu haben, einzig und allein, um mir die Augen zu öffnen. Es sollte nicht mehr weitergehen wie bisher, indem der Beruf immer Vorrang vor der Familie hatte. Sie wollte mich lehren, die Bedeutung der Familie wieder neu schätzen zu lernen.

Ich glaube, ich habe meine Lektion verstanden. Ich sah Svenja an, lächelte und verliebte mich wieder einmal in diese wunderbare Frau. Es wurde der sinnlichste und liebevollste Heiligabend, seit ich denken kann. In diesem Sinne: Frohes Fest und Augen auf!

P.S.: Ich hab die drei Zocker gesehen. Ich schwöre es! Warum sonst bin ich auf ein Kinder-Weihnachtsfest nach Sóller geleitet worden, das es gar nicht gibt?

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