Eine Gedenktafel in Palma, die an einen deutschen Schriftsteller erinnert? Es gibt sie, groß genug, um aufmerksamen Passanten ins Auge zu fallen, klein genug, um achtlos daran vorbeigehen zu können. Am 15. April 2005 enthüllten die damalige Bürgermeisterin von Palma, Catalina Cirer, und ihr Viersener Amtskollege Günter Thönnessen die Gedenktafel dort, wo sich Carrer Sant Feliu und Carrer del Vi kreuzen. Sie ist Albert Vigoleis Thelen gewidmet, der von 1931 bis 1936 auf Mallorca lebte, die meiste Zeit davon in der Calle General Barceló 23, heute Carrer del Vi 11.

Seine Erlebnisse in diesen fünf Jahren hat Thelen in dem Roman „Die Insel des zweiten Gesichts“ verarbeitet, der 1953 veröffentlicht und 1954 von der Studienstiftung des Deutschen Volkes mit dem Theodor-Fontane-Preis ausgezeichnet wurde. Thelens Alter Ego Vigoleis gibt darin erlebte und nacherzählte Geschichten von Huren und Beamten, Anarchisten und Priestern, Soldaten und Nonnen, Bettlern und Millionären zum Besten und setzt dem Mallorca der 30er Jahre bis zum Spanischen Bürgerkrieg ein lebendiges und wortgewaltiges Denkmal.

Thelen wurde 1903 in Süchteln geboren, das heute zur Gemeinde Viersen gehört. So etwas wie Heimatverbundenheit hat er dort nicht entwickelt. Wie sollte er auch, ließ ihn doch schon ein Lehrer, der seine schlechten Scherze mit den Schülern trieb, als Strafarbeit vier Stunden lang schreiben: „Ich bin ein nationaler Dummkopf.“ So fiel es ihm nicht schwer, 1931 seiner Freundin und späteren Frau Beatrice, eine Baseler Pfarrerstochter, nach Amsterdam zu folgen. Er sei aus einem „allgemeinen Unbehagen an meiner deutschen Kultur“ weggegangen, sagte der Schriftsteller, der sich einmal als „Heimatloser ohne Heimweh“ bezeichnete.

Sein Aufenthalt in Amsterdam währte nicht lange. Noch im selben Jahr erhielt Beatrice ein Telegramm aus Mallorca. Der Absender: ihr Bruder Zwingli. Der Text: „Liege im Sterben, Zwingli.“ Doch als sie am 1. August 1931 auf der Insel ankamen, trafen sie einen quicklebendigen Zwingli an, der eine Prostituierte zur Geliebten genommen hatte und hoch verschuldet war.

Das Paar beglich die Schulden aus seinen eigenen Ersparnissen, bis es selbst mittellos war. Ohne Arbeit und Freunde, umgeben von Betrügern und käuflichen Damen, schrieb Thelen am 29. August 1931 in einem Brief: „Wir wissen genau, wie lange unsere Peseten noch reichen, und wir gehen so sparsam damit um, dass wir ständig Bauchgrimmen haben und dazu den Körper voller Wanzen aus der miesen Pension, die wir uns noch leisten können.“ In ihrer desolaten Situation erwägen Thelen und Beatrice, die 1934 in Barcelona heiraten, sogar einen Selbstmord.

Anstatt sich das Leben zu nehmen, fand das Paar Arbeit und Freunde. Der Schriftsteller Harry Graf Kessler engagierte Thelen als Sekretär, der seine Manuskripte ins Reine tippen musste. Kessler war ein höflicher, aber um jedes Detail ringender Mann. Deshalb sei die Arbeit für ihn „kein Schleck“ gewesen, hielt Thelen in „Die Insel des zweiten Gesichts“ fest: „Nun genügten manchmal kleine Änderungen, ein Wort, und die ganze Seite musste abgeschrieben werden, mit vielen Durchschlägen.“

Neben seinen Arbeiten nahm Thelen in der Casa del Libro am Paseo del Borne an tertulias, Gesprächszirkeln, teil, bei denen er einmal auch als Experte über das Nazi-Deutschland sprach. Zudem lernte Thelen Pedro Sureda kennen, den späteren Maler und Schriftsteller, Spross einer noblen mallorquinischen Familie, der sein bester spanischer Freund wurde.

In zweierlei Hinsicht unterschied sich Thelen von Schriftstellern wie Kessler, Franz Blei und Karl Otten, die vor den Nazis nach Mallorca geflüchtet waren. Denn Thelen war lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten und aus rein familiären Gründen nach Mallorca gekommen. Zudem war er sowohl als Literat als auch in Hinsicht auf seine politische Einstellung in Deutschland ein unbeschriebenes Blatt.

Bis 1933 die Nazis an die Macht und Gestapo-Spitzel auf die Insel kamen und der deutsche Konsul auf Mallorca, Hans Dede, versuchte, Thelen fürs „Dritte Reich“ zu gewinnen. In „Die Insel des zweiten Gesichts“ liest sich diese Begebenheit folgendermaßen: Der Konsul hatte Vigoleis eines Tages „vor seine amtliche Person“ beordert. „Dann kam die amtliche Verlautbarung: als Auslandsdeutscher müsste er mich parteipolitisch erfassen, und ich müsse das da - einen Wisch - unterschreiben. Es war eine Art Treuebekenntnis zum Führer, unverbrüchlich. Unverrücklich verließ ich das Lokal. Nun wusste der Konsul, mit wem er es zu tun hatte.“ Statt den Eid auf Hitler zu leisten, rezensierte Thelen unter Pseudonym in der niederländischen Zeitung „Het Vaderland“ deutsche Exil-Literatur, die bei den Nazis auf dem Index stand.

Politisch herrschte zwischen Konsul Dede und Thelen „offene Feindschaft“. Zugleich schob Dede als Direktor eines Reisebüros dem Schriftsteller immer wieder Jobs als Fremdenführer zu. „Und an solchen Führertagen wurde ich nicht im Namen des anderen Führers angeranzt, abgekanzelt, verwarnt.“ Immer wieder spielte Thelen in seinem Roman mit dem Wort „Führer“, um das Dritte Reich und seine Vertreter mit Ironie und Spott aufs Korn zu nehmen, etwa wenn der den Konsul bei seiner Einstellung als Fremdenführer zitiert: „Der Führer weiß alles! Merken Sie sich das, und Sie werden ein guter Führer werden.“ Und Thelen tut alles, um die Kraft-durch-Freude-Touristen, „die Erwachten“, zufriedenzustellen: „Ich machte dann die Entdeckung, dass man als Führer eine Autorität ist und eine Macht darstellt. Ich dozierte das Blaue vom Himmel herunter und war bald schon der beliebteste und - fachkundigste Erklärer.“ Und natürlich sind die Reisenden am Ende immer von ihrem Führer begeistert und lassen ihren fantasierenden Fremdenführer hochleben, was Thelen lakonisch kommentiert: „Kein Volk, musste ich denken, ist so unglücklich in der Wahl seiner Führer wie das deutsche.“

Die offene Haltung gegen den Nationalsozialismus trug bei den Thelens dazu bei, dass „das eigene Hungerideal bedeutend gehoben wurde“. Das Paar, das im Sprachunterricht für höhere Töchter eine weitere Verdienstquelle hatte, merkte mit einem Mal, wie es weniger verdiente. „Die feinen Leute in den Palästen zogen sich zurück. Wussten die Töchter schon genug?“, fragte Thelen in seinem Roman. Sein Freund Pedro Sureda klärte ihn auf: „Wir seien als Kommunisten verschrien in ganz Palma; in den Geschäften wiesen wir deutsche Erzeugnisse zurück, das komme uns teuer zu stehen.“

Nach der „Nationalen Erhebung“ Francos und der Falangisten war es für Thelen und seine Frau mit dem Frieden auf der Insel endgültig vorbei. Durch sein offenes Auftreten gegen Hitler stand das Paar auf der schwarzen Liste der spanischen Faschisten. Auf „die unwillige Frage des deutschen Konsuls: ,Was, sind Sie nicht erschossen?‘“ stellte es „die rührend, törichte Gegenfrage“, ob er das denn sein müsse.

Dass „Don Vigo“ nicht liquidiert wurde, verdankt er auch dem Umstand, dass er sich nie öffentlich über Franco, der die Casa del Libro bespitzeln ließ, geäußert hatte. Mit dem Hinweis, er sei nur Gast hier, hatte es Thelen immer vermieden, die politische Situation in Spanien zu kommentieren. Deshalb hatte der Spitzel des Caudillo nichts gegen Thelen unternommen, als er die Liquidationsliste erhielt.

In seinem Roman hat Thelen eine andere Version veröffentlicht. Ob Thelen und seine Frau Beatrice tatsächlich um ihr Leben bangen mussten, wie „Don Vigo“ in „Die Insel des zweiten Gesichts“ behauptet, ist unklar. Gleich zu Beginn seines Romans richtet er sich mit einer Weisung an den Leser: „Alle Gestalten dieses Buches leben oder haben gelebt.“ Gleichwohl ist Thelens Meisterwerk als historisches Dokument mit Vorsicht zu genießen. Denn der Autor schrieb das Werk erst in den 50er Jahren in den Niederlanden, 17 Jahre nach dem Verlassen Mallorcas, und erlaubte sich dabei dichterische Freiheiten, die er als „angewandte Erinnerungen“ bezeichnete. Auf Tagebücher oder Notizen konnte er bei dieser Art des Erinnerns nicht zurückgreifen, sondern lediglich auf sein Gedächtnis und das seiner Frau. Was Fiktion ist und was Realität, was Ich-Erzähler und was Verfasser, das ist - wenn überhaupt - nur formal zu unterscheiden, zumal Thelen selbst vom „Doppelbewusstsein der Persönlichkeit“ der Figuren sprach. Seinem Roman stellte er gleichwohl, oder gerade deshalb, den folgenden Grundsatz voraus: „In Zweifelsfällen entscheidet die Wahrheit.“

Glaubt man dem Roman, dann versteckten sich die Thelens in den Wochen nach Ausbruch des Bürgerkriegs an verschiedenen Orten. Nach einem bürokratischen Hürdenlauf verließen sie Mallorca im September 1936 mit dem britischen Kriegsschiff „Grenville“. Auf dem Schiff befand sich auch der österreichische Exilschriftsteller Franz Blei. Dank dessen Intervention rückte der Kapitän von einer geplanten Kursänderung ab. Statt Marseille sollte die „Grenville“ Genua im faschistischen Italien anlaufen. Daraufhin wandte sich Blei an den Offizier: An Bord befänden sich Ausgebürgerte und Juden. „Da gehe es nicht an, diese Menschen in Italien an Land zu setzten; es bedeute für sie alle: Drittes Reich, Konzentrationslager, Tod!“

Noch einmal änderte die „Grenville“ ihren Kurs und lief nun Barcelona an, das sich in den Händen der Republikaner befand. Die Thelens ließen sich zunächst in der Schweiz nieder, dann in Portugal und den Niederlanden, wo „Die Insel des zweiten Gesichts“ zuerst erschien. Später lebten sie dann wieder in der Schweiz.

Erst 1986 zogen die Thelens nach Deutschland zurück und bezogen eine Wohnung in einem Altersheim in Viersen, ein Jahr, nachdem der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den Schriftsteller mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet hatte. Seinen letzten Brief nach Mallorca begann der schwer kranke Thelen am 5. April 1989. Beendet wurde er von seiner Frau Beatrice mit den nüchternen Worten: „Albert Vigoleis ist am 9. April gestorben. Bitte keine Beileidsbekundungen!“

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