Ein Roman wie ein langer Herbstabend, der Held ein dekadenter Landadliger, die Handlung nichtig, der Schauplatz abgelegen.

Wer das Buch „Das Puppen­kabinett des Senyor Bearn" von Llorenç Villalonga zur Hand nimmt, der sollte tief durchatmen und alle Hektik des Alltags vergessen. Es ist ganz im tröpfelnden Rhythmus des Ortes und der Epoche geschrieben, die es porträtiert. Der erstmals 1956 erschienene Roman erfüllt in meisterlicher Weise die literarischen Regeln der Einheit von Form, Raum und Zeit und gilt auch wegen seiner einstrangigen, eleganten Erzählstruktur und der psychologischen Tiefe der Charaktere als Hauptwerk des Autors und bestes Beispiel der katalanischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Auf dem fiktiven Gut Bearn ist die Zeit stehen geblieben. Der junge Priester des Anwesens, Joan Mayol, schildert im Jahr 1890 nach dem mysteriösen Tod seines Herren Don Antoni und dessen Gattin ­Donya Maria Antònia die letzten 30 Lebensjahre der beiden. Sie waren kinderlos, mit ihnen starb das Geschlecht aus. Seine distanzierte und minu­tiöse Analyse dieser untergehenden Welt am Ende der Welt bereichert Villalonga mit der Figur der Donya Xima, Nichte und Geliebte von Don Antoni. Sie hat sich am Hof von Napoleon III. in Paris etabliert und stattet ihrem hoch verschuldeten Onkel auf Bearn immer wieder Bittbesuche ab. Gespräche zwischen dem Kaplan und seinem Gönner sowie Alltagsschilderungen auf dem Gut und im gleichnamigen Dorf sorgen auf rund 350 Seiten zudem für analytische Tiefe und Lokalkolorit.

Ein möglicher Schauplatz des Romans ist das Landgut Raixa, auf hal­bem Weg zwischen Palma und Sóller. Es wurde 1230 erstmals erwähnt und Ende des 18. Jahrhunderts in einen Ort des Naturgenusses mit barocker Gartenanlage im italienischen Stil verwandelt. Die mallorquinische und spanische Verwaltung kauften Raixa im Jahr 2002 einer Erbengemeinschaft ab, die mit dem Erhalt der possessió überfordert war. Wer sich heute auf den Weg zu dem frisch renovierten, öffentlich zugänglichen Anwesen in der Gemeinde Bunyola macht, der kann sich dort am teichgroßen Gießwasserdepot in die Stille von vor 120 Jahren zurückversetzen. Im Hof kann er spüren, wie das Leben vor Beginn des Kommunika­tionszeitalters in der Provinz verlaufen ist: Mallorcas Landadel war wohlhabend, aber uninformiert, einflussreich, aber unbedeutend, familiär abgesichert, aber den Strömungen der Zeit ausgeliefert.

Die Treppe des Gartens verführt zu trägen Träumereien, wie sie auch der Regisseur Jaime Chávarri 1983 erdachte: Seine Verfilmung des Romans mit Ángela Molina in der Rolle der Donya Xima hat die vom Autor niemals bestätigte Beziehung zwischen Bearn und Raixa begründet. Kinofans wollen noch heute die berühmte Treppe sehen, die die junge, sinnliche Frau vor den Augen ihres alternden Onkels herabstieg. Sie suchen nach den mit dunklen Möbeln vollgestellten Zimmern, in denen über Jahrhunderte triefende Langeweile herrschte, geistiges Gut erstickt und menschliche Triebe unterdrückt wurden.

Heute sind die Räume der planta noble im ersten Stock – dort, wo die Herrschaften wohnten – zwar noch mit rotem Brokat tapeziert, ansonsten aber weht Mallorcas frische Landluft durch sonnendurchflutete Räume.

Llorenç de Villalonga i Pons (1897-1980) kannte diese Welt genau. Der Mallorquiner hatte Medizin in Madrid und Rom studiert und praktizierte sein Leben lang als Psychiater in Palma. Zudem war er selbst Aristokrat, die Besitztümer seiner Familien lagen unter anderem in Bunyola (Raixa gehörte allerdings nicht dazu).

Viele mallorquinische Stammbäume reichen auch heute noch bis zu den katalanischen Eroberern der Insel unter König Jaume I. im Jahr 1229 zurück. Lange Erbfolgen, Bequemlichkeit, Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit führten ab Mitte des 19. Jahrhunderts zum Niedergang vieler großer Geschlechter. Die Erben der Eroberer zogen dem inzestuösen Provinzmief der Insel das aufregende Leben in Paris vor, wo sie ihr Geld mit vollen Händen ausgaben. Viele mussten Ländereien verkaufen und deren Aufteilung zusehen. Landarbeiter, die über Jahrhunderte in Abhängigkeit gelebt hatten, nutzten den Lauf der Dinge und kauften sich im 19. Jahrhundert erste kleine Landparzellen – das Ende der Feudalgesellschaft.

Zweigt man heute von der Landstraße auf den breiten Feldweg nach Raixa ab, sieht man Don Antoni, in gewisser Weise Alter Ego des Autors, vor sich: Er war sowohl Feudalherr, Patriarch und Vertreter einer herrschenden Gesellschaftsschicht als auch ein den körperlichen Freuden zugetaner Agnostiker, Anhänger aufklärerischen Gedankenguts und technischer Erfindungen. Er trug Perücke, ließ die Arbeiter seines Landgutes auspeitschen, lebte in Zweck­ehe mit seiner Cousine Maria Antònia, hielt sich wechselnde Geliebte und kümmerte sich ansonsten hinter verschlossenen Türen um seine persönlichen Bedürfnisse: die Lektüre französischer Denker, das Verfassen seiner Memoiren und die Wache über ein geheimnisvolles Zimmer, das Puppenkabinett genannt wurde und von niemandem betreten werden durfte.

In Villalongas Roman ist die Enge von Flauberts „Madame Bovary" zu spüren. Auch „Il Gattopardo" von Giuseppe Tomasi di Lampedusa und „Der Tag des Gerichts" von Salvatore Satta kommen in den Sinn. Sie spielen im 19. Jahrhundert in der französischen Provinz, auf Sizilien und Sardinien und schildern europäische Welten im Abseits. Für heutige Nostalgiker und Kulturpessimisten sind diese Bücher nichts: Sie zeigen, dass das Leben früher eindeutig nicht besser war – in der Provinz schon gar nicht.

Infos

Llorenç Villalonga: „Das Puppenkabinett des Senyor Bearn. Ein mallorquinischer Familien­roman". Piper Verlag, 2007, 24,95 Euro.

Selbstverständlich gibt es auch Ausgaben von „Bearn" auf Spanisch und Katalanisch.

Der Film „Bearn o la sala de muñequas", auf Raixa gedreht, ist auf Video oder DVD erhältlich (12,95 Euro).

Das Anwesen ist bis Jahresende samstags und sonntags von 10 bis 14 Uhr gratis zu besichtigen.

Ab 2010 steht ein Teil weiterhin gegen Eintritt dem Publikum offen.

Ausschilderung linker Hand an der Landstraße von Palma nach Sóller beachten.

In der Printausgabe lesen Sie außerdem

- Bier, Knödel und Bühnenkunst

- Zu Besuch im Santuari de Bonany

- Wanderung auf die Talaia Vella

- Kindermenü: Kreative Familien-Workshops

- Um Äpfel und Schultüten geht´s im Restaurant Ummo

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