Das Phänomen lässt einen auch dann nicht kalt, wenn man es sich schon mehrfach zu Gemüte geführt hat: Wenn am 2. Februar und am 11. November die Sonne aufgeht und es nicht wolkig ist, erscheint an der Innenwand der Kathedrale von Palma hell leuchtend unterhalb der kleinen Rosette die große, gegenüberliegende, als wäre Gottes Hand höchstselbst im Spiel. Da eine riesige Acht gebildet wird - sie steht wohlgemerkt in der Zahlensymbolik unter anderem für Auferstehung - könnte man meinen, dass die Konstrukteure im Mittelalter diesen Effekt einkalkuliert hatten, um die Menschen mit Göttlich-Magischem zu beeindrucken.

Dem aber ist nicht so, wie der streng logisch und rational denkende Vorsitzende der Balearischen Gesellschaft für Mathematik, Josep Lluis Pol Llompart, darzustellen weiß. Die Acht dürfte reiner Zufall sein. Pol Llompart, der an der Sekundarschule in ­Marratxí Mathe unterrichtet und mit der Geschichte von La Seu wie wenige andere vertraut ist, sieht in dem Phänomen lediglich eine unvorhergesehene Folge historischer, sich über Jahrhunderte hinziehender Vorgänge.

Zwei Kapellen, eine Moschee

„Bevor der heute bekannte Bau Ende des 14. Jahrhunderts errichtet wurde, standen zwei Kapellen an der Apsis, die Capilla Real und die Capilla de la Trinidad", sagt Pol Llompart. Eine Apsis ist das halbkreisförmige Ende einer Basilika. Nicht weit entfernt davon befand sich die Moschee, und die war - wie auch der ehemals maurische Almudaina-Palast - nach Mekka ausgerichtet.

Pol Llompart zufolge wurden Kathedralen im Mittelalter über die Jahrzehnte und manchmal sogar Jahrhunderte nicht in die Höhe gebaut, sondern in die Länge. „Die 120 Grad nach Südost ausgerichteten beiden Kapellen wurden mit der Zeit quasi auf einer Symmetrieachse zur Moschee verlängert." Und weil die Moschee dort nun einmal stand, und man damals wie heute praktisch veranlagt war, sei das Minarett einfach zum ­Kirchturm umfunktioniert worden. Deswegen zeige der um zehn Grad gedrehte Glockenturm der heutigen Kathedrale anders als der Rest des Baus noch immer nach Mekka.

So könnte es gewesen sein. Dass hier von langer Hand geplant wurde, ist jedenfalls mehr als unwahrscheinlich. Wäre das Kirchenschiff länger ausgefallen, würde es an den beiden nämlichen Tagen nicht zum ­Phänomen der Acht kommen. „Die beiden Kreise wären dann weit auseinander gerissen, sodass man diese Zahl nur mit viel Phantasie erkennen könnte", sagt der Mathematiker. „Die perfekte Acht würde in diesem Fall an irgend einem Tag vor dem 2.2. erscheinen und an einem Tag nach dem 11.11."

Wäre das Kirchenschiff kürzer, wäre das Phänomen dagegen in der wärmeren Jahreszeit zu beobachten. Aber die Kathedrale ist nun einmal so lang, wie sie ist, sodass die zweite Rosette in den warmen Monaten zum Teil sogar unten auf die ­Kirchenbänke projiziert wird.

„Als die Kathedrale dann in voller Größe stand, war man wohl eher überrascht und konstatierte wie vom Donner gerührt das Phänomen der Acht", meint Pol Llompart. Im Herbst geht die Sonne jeden Tag etwas mehr aus südlicher Richtung auf. Das geschieht bis zur Wintersonnenwende am 21. Dezember, wenn - auch das geradezu magisch - die eine Rosette zur Gänze in der anderen erscheint. Dann dreht sich alles wieder, die Tage werden bekanntlich länger, die Sonne geht mehr und mehr im Norden auf, und am 2. Februar befindet sie sich dann in der gleichen Position wie am 11. November.

Es werde Licht

Was nun aber die genauen Tage der leuchtenden Acht angeht, so war man gleich aus mehreren Gründen so erstaunt: „Der 11. November ist der Sankt-Martinstag", sagt der Mathematiker. „Und der Regenbogen, der ja gebrochenes Licht ist, heißt auf Katalanisch ´Arc de Sant Martí´." Der 2. Februar indes ist der „Tag der Jungfrau von Candelaria", „und auch der steht in Verbindung mit Licht", wie Mathematiker Pol Llompart weiß. Dem Licht der Welt eben.

Vom Donner gerührt waren die Menschen des Mittelalters wohl auch deswegen, weil am 2. ­Februar der Eroberer-König ­Jaume I. (1208-1276) geboren worden war, der auf Mallorca die Mauren besiegte. „Es war allerdings nicht Jaume I., der den Befehl gab, die Kapellen zur Kathedrale auszubauen, was ebenfalls dagegen spricht, dass das Phänomen der Acht einkalkuliert war", so der Mathematiker. Vielmehr habe der nächste Insel-König, Jaume II., Anfang des 14. Jahrhunderts die Erweiterung angeordnet.

Dabei nimmt der streng naturwissenschaftlich denkende José Lluis Pol Llompart das Faible gerade der mittelalterlichen Menschen für das Göttliche und Magische durchaus zur Kenntnis. „Über 90 Prozent sämtlicher Kathedralen sind mehr oder weniger nach Osten ausgerichtet, also dorthin, wo die Sonne aufgeht", sagt er. „Und das ist so, weil die Sonne ein göttliches Symbol ist, Gott ist Licht", konstatiert er, ganz nüchtern.

Wer sich das Lichtspektakel am 2. Februar anschauen möchte, sollte zunächst einmal auf wolkenlosen Himmel hoffen. Die Seitenportale des Gebäudes werden um 7.30 Uhr geöffnet, um 8.30 Uhr erscheint dann die perfekte Acht. Das Ganze hält sich einige Minuten, bis es sich mit dem Lauf der Sonne wieder verschiebt. Einen Tag vor dem großen Ereignis bietet Mathematiker Josep Lluis Pol Llompart bereits einen geführten Rundgang um 8.30 Uhr an - allerdings auf Katalanisch. Kontakt unter Tel.: 629-66 77 42.

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