Der Tramontana zählt neben dem Mistral zu den besonders heim­tückischen Winden im westlichen Mittelmeer. Insbesondere im Winter fegt er nicht selten als Sturmtief durch den Golf von Lyon und verwandelt auf seinem Weg Richtung Süden die Gewässer rund um die Balearen in einen maritimen Hexenkessel.

Zum Verhängnis wurde ein solch bösartiger Tramontana-Sturm dem französischen Passagier-­Dampfer „Lamoricière". Das über 120 Meter lange Schiff war am frühen Morgen des 6. Januars 1942 mit über 400 Passagieren und Besatzungsmitgliedern an Bord von Algier nach Marseille aufgebrochen. Noch wenige Stunden zuvor hatte der Kapitän eine telegrafische Unwetter-Warnung für den Golf von Lyon erhalten, diese jedoch aufgrund der strengen Terminvorgaben im wahrsten Sinne des Wortes in den Wind geschlagen. Eine Entscheidung, die er keine 72 Stunden später bitter bereuen sollte.

Bereits wenige Seemeilen nördlich der algerischen Hafenstadt quälte sich die „Lamoricière" trotz ihrer beachtlichen Größe mit weniger als acht Knoten Fahrt durch die stündlich höher werdenden Wellenberge. Grund dafür war neben dem von vorne blasenden Wind vor allem das leistungsschwache Dampf-Aggregat im Maschinenraum, das man zwei Jahre zuvor aufgrund der im Zweiten Weltkrieg knapper werdenden Treibstoff-­Ressourcen gegen die ursprünglichen Diesel-Motoren getauscht hatte. Mit eingeschränkter Maschinen­leistung stemmte sich das über 4.700 Tonnen schwere Stahlschiff fast zwei Tage lang gegen Wind und Wellen.

Am späten Nachmittag des 8. Januars - kurz nach Passieren des Nordkaps von Menorca - geriet die „Lamoricière" endgültig in Seenot. Ohne den Schutz der Insel-Küste war das Schiff nun vollständig den orkanartigen Tramontana-Böen ausgesetzt. Bis zu elf Meter hohe Wellen stürzten im Minutentakt über das Vorschiff. Durch die dortigen Luken zum Laden der Kohle drang immer mehr Meerwasser in den Maschinenraum.

Als der Kapitän sich entschloss, beizudrehen, um weiter im Süden Menorcas Schutz vor dem anhaltenden Sturm zu suchen, fing die „Lamoricière" den SOS-Ruf eines nur wenige Seemeilen weiter nördlich in Seenot geratenen französischen Frachters auf. ­An der SOS-Position angekommen, musste der Kapitän der „Lamoricière" jedoch feststellen, dass das Schiff mitsamt seiner Besatzung bereits gesunken war. Bei dem darauf folgenden Versuch, ein Wendemanöver zu fahren, gaben die Ladeluken auf dem Vorschiff der „Lamoricière" vollständig nach. Der daraus resultierende Wassereinbruch legte Generator und Maschinen lahm - und auf dem Schiff brach nun vollends die Panik unter Passagieren und Besatzungsmitgliedern aus.

Die letzten Stunden vor dem Untergang waren dramatisch. So scheiterte beispielsweise der Versuch, das erste Rettungsboot, in das man sämtliche Kinder gesetzt hatte, zu Wasser zu lassen. Das Boot wurde beim Herabsenken von einer haushohen Welle erfasst und in die Tiefe gerissen. Es sank mitsamt seinen Insassen innerhalb weniger Sekunden vor den Augen der entsetzten Eltern, die zu Dutzenden ins wenige Grad kalte Wasser hinterher sprangen, um ihren Kindern zu Hilfe zu kommen. Keiner von ihnen überlebte.

Aufgrund des massiven, weiter voranschreitenden Wasser­einbruchs im Vorschiff begann die „Lamoricière" gegen Mittag des 9. Januars zu sinken. Von den rund 400 Passagieren und Besatzungs­mitgliedern überlebten das bis heute größte Schiffsunglück auf den Balearen insgesamt nur 96 Menschen. Sie wurden von einem während des Untergangs am Unglücksort eintreffenden spanischen Frachter mit Bordnetzen aus dem Wasser gezogen. Das Wrack wurde Anfang der 90er Jahre von einem Unterwasser-Roboter in rund 120 Meter Tiefe, etwa vier See­meilen nordöstlich vom Cap de Favaritx entdeckt.

Unter den ertrunkenen Passagieren befand sich auch der ukrainische Mathematiker und Wissenschaftler Jerzy Rosycki. Im Auftrag der Alliierten war er in den ersten beiden Kriegsjahren maßgeblich an der Dechiffrierung deutscher Geheimbotschaften um die Codierungs-Maschine Enigma beteiligt gewesen.