Wer sich aus Palma kommend dem Hafen von Alcúdia nähert, dem stechen in der Regel die vielen Boote und die Baleària-Fähre nach Menorca ins Auge. Und das stillgelegte Elektrizitätswerk mit den riesigen Schornsteinen. Übersehen wird gemeinhin ein linkerhand liegendes architektonisches Kleinod, das sich unter Bäumen verbirgt: die vor sich hinrottende ehemalige Mitarbeiter-Siedlung „Urbanización Gesa", die jetzt dem Stromkonzern Endesa gehört und deren 42 Gebäude zumeist leerstehen.

Das Gedächtnis der Siedlung

Barbara Antich wohnt hier aber noch, und das schon seit mehr als einem halben Jahrhundert. Die 94-Jährige ist Witwe eines Konzern­angestellten. Nicht allzu weit entfernt von der Greisin leben noch zwei weitere Ex-Gesa-Mitarbeiter, die aber heute, am Besuchstag des MZ-Reporters, abwesend sind.

Barbara Antich ist das Gedächtnis der Siedlung und lächelt gelöst. „Ich kam mit 37 Jahren aus Palma hierher, genau am 15. Juli 1958, als alles nagelneu war", sagt sie. „Alles war so schön neu und gepflegt und grün, es gab einen weiträumigen Park, wir waren alle so jung, die Aufbruchstimmung war einfach wunderbar."

Barbara Antichs Sohn war der Erste, der in der 1969 eröffneten Kirche geheiratet hatte. „An jedem Dreikönigstag hatte Gesa dort Geschenke an unter achtjährige Kinder verteilt", sagt sie. Damals sei so viel Geld dagewesen.

Drei Tage habe ihr Mann damals am Stück freibekommen („das war ein Luxus"), dann seien sie immer zu ihren Verwandten ins 60 Kilometer entfernte Palma gefahren, schwärmt die Frau. „So habe ich den Kontakt zu meiner Heimatstadt nie verloren." Noch heute lasse sie sich dort oft hinfahren.

Trotz der verfallenden Umgebung fühlt sich die auffallend rüstige Barbara Antich alles andere als schlecht in der heruntergekommenen Siedlung. Im Eingangsbereich von Barbara Antichs Haus hängen Weintrauben von wuchernden Reben herunter, auf Steine klebte die Greisin Muscheln, neben der Wäscheleine wachsen fast melonengroße Zitronen. „Das ist mein Leben hier, mein Sohn, meine Enkel und Urenkel und so viele andere Familienmitglieder besuchen mich regelmäßig."

Ihren Garten pflegt sie denn auch liebevoll. „Ich lebe hier gern und bleibe hier", sagt sie. Angst vor den etwa 15 okupas, illegal hier lebenden Hausbesetzern, habe sie nicht. „Und außerdem haben wir hier Wachleute."

Die meisten Fensterhöhlen der Siedlung wurden inzwischen zugemauert, an den Rändern der Straßen sprießt das Unkraut, an vielen Stellen bröckelt der Putz, auf einem verrosteten, halb umgekippten Straßenschild zwitschert unüberhörbar ein Spatz. Es sind hier und da Stimmen zu hören, im Garten eines Gebäudes weht eine Totenkopfflagge, irgendwo bellt ein Hund.

Das Areal wurde vor einigen Jahren mit einem grünen Zaun eingegrenzt, draußen tobt das Leben: Auf der Hauptstraße zum Alcanada-Golfplatz fährt ein hellblauer Ausflugsdoppelbus voller Touristen, auf den Bürgersteigen lärmen Menschen auf Englisch und Deutsch, jenseits einer Nebenstraße stehen durchaus ansehnliche Einfamilienhäuser mit Pools, mehrere Frauen unterhalten sich lärmend über die Zäune hinweg.

Moderner und mediterraner Stil

Die „Urbanización Gesa" wurde 1955 - es regierte der Diktator Francisco Franco - vom damals allmächtigen Spanischen Industrieinstitut in Madrid geplant und bis 1957 fertiggestellt. Als Architekt war José Ferragut (1912-1958) gewonnen worden, der auch das inzwischen nicht mehr genutzte, im schlicht-funktionellen Stil gehaltene Gesa-Gebäude in Palma und mehrere Hotels baute. „Er mischte mallorquinische mit modernen Elemente wie beispielsweise großen Fensterflächen und Steinmauern oder Dächer ohne Ziegel", so sein gleichnamiger Neffe am Telefon zur MZ, der ebenfalls Architekt ist. „Er schuf eine kleine separate Welt mit Insel-Charakter." Die Leute sollten sich halt wohlfühlen.

Das Sterben der „Urbanización Gesa" war ein langsamer Prozess über mehrere Jahrzehnte. Nachdem Gesa 1983 in Endesa aufgegangen war, kümmerte man sich nicht mehr allzu intensiv um das Dorf. Jedes Mal, wenn ein Endesa-Mitarbeiter pensioniert wurde oder freiwillig ging, folgte ihm kein Nachbewohner, und die Fenster des Hauses wurden zugemauert. Alle verbliebenen Einrichtungsgegenstände wie Bäder wurden systematisch zerstört. Und wer in Rente war, dort aber noch wohnte, wurde ab dem Jahr 2000 in Briefen unmissverständlich aufgefordert, zu verschwinden. Parallel dazu ließ man alles weiter verfallen. Dennoch waren 2008 immerhin noch 13 Bungalows bewohnt.

Im Telefon-Interview mit der MZ bezeichnet Architekten-Neffe José Ferragut diese Verfahrensweise als alten, unter Eigentümern beliebten „Trick, um schneller an eine Abrissgenehmigung zu kommen". Die Geschichte dieser Siedlung sei eine „Allegorie des Aufstiegs und Niedergangs des Gesa-Konzerns".

Und alles war doch so gut gemeint gewesen. Gesa wollte die Mitarbeiter nah an ihren Arbeitsplätzen haben und baute ihnen die Siedlung - mit Supermarkt, Kinder­krankenstation, Bibliothek, Café und Spielsalon. Später kam die der Jungfrau des Lichts gewidmete Kirche hinzu, in welcher man noch die speziellen Fenster erkennen kann.

Eigentlich dürfte die Siedlung nicht so vergammelt sein, denn sie wurde im Oktober 2009 von der Gemeinde Alcúdia unter dem Aktenzeichen AC 25 als historisch und künstlerisch wertvoll eingetragen - und dies in der Kategorie B, was laut Pere Oller von der Denkmalschutzorganisation Arca eigentlich sofortige Renovierungsmaßnahmen seitens des heutigen Eigentümers Endesa nach sich ziehen müsste. Seinen Angaben zufolge gilt die 42 Gebäude umfassende Siedlung als schützenswertes Erbe der Industrialisierung Mallorcas - so wie die Sindicat-Bodega in Felanitx oder die ehemalige Textilfabrik Nova in Sóller.

Wachmann und Hausbesetzer

Doch der Putz bröckelt weiter. Und Wachmann Enrique schiebt heute Dienst. Er sagt, was er weiß: „Es gibt hier gute Menschen wie Barbara Antich, weniger gute und schlechte Menschen." Der für einen privaten Sicherheitsdienst arbeitende Enrique nimmt zusammen mit sich abwechselnden Kollegen 24 Stunden lang die einzige Zufahrt zu dem Gelände in Augenschein, auf dem zwischen teils riesigen tiefgrünen fast tropischen Bäumen die unterschiedlich großen Häuser im Bungalowstil stehen. Sämtliche andere Einfahrten sind mit Betonklötzen unpassierbar gemacht worden. „Hier dürfen nur registrierte Fahrzeuge rein", sagt der Wachmann. Wer hier nicht hingehört, den schickt er weg.

Enrique arbeitet indirekt für die Endesa, die sich mit den Hausbesetzern herumschlagen muss. „Die klauen Strom", schimpft der Diensthabende. Deswegen verwundert es nicht, dass hier und dort selbst am helllichten Tag vor der Haustür eine Glühbirne brennt. Enrique will nicht fotografiert werden, „weil ich keine Probleme haben will", wie er sagt. Auf wen er sich bezieht, sagt er nicht.

Die junge Hausbesetzerin Vanesa wird er jedenfalls nicht gemeint haben. Die ist freundlich, gibt sich leutselig und streichelt einen Hund. Aber auch sie hat keine Lust, ihr Konterfei in einer Zeitung zu sehen. Es sei doch besser, wenn Menschen hier wohnten, statt alles einfach verfallen zu lassen, sagt die Brasilianerin, die im Tourismus­gewerbe arbeitet und mit mehreren anderen Landsleuten hier lebt. Allzu viel Lust aufs Erzählen hat sie nicht. Fast alle Häuser hier seien doch bestens in Schuss, „wir wollen nicht, dass das abgerissen wird", meint sie. „Uns ging es wegen der Krise schlecht, wir hatten keine Arbeit, vor anderthalb Jahren zogen wir einfach hierher."

Das muss Endesa tolerieren, bis ein Richter eine Entscheidung trifft. „Aber das kann dauern", sagt Wächter Enrique, und sein Blick schweift über einen Ex-Kinderspielplatz, der aus kunterbuntbemalten hässlichen Betonklötzen und neben einer rosafarbenen Bank aufgestellten Autoreifen besteht. Bis zu einem alles regelnden Urteil dürfte es Endesa schwer haben, das schön gelegene, aber vom Ex-Elektrizitätswerk mit den zwei hohen Schornsteinen fast erschlagene Dorf zu verkaufen. „1,3 Millionen Euro wollten die kürzlich dafür haben", behauptet Wachmann Enrique. Die Zikaden zirpen beständig, eine Baleària-Fähre hupt. Dann lacht er auf einmal lauthals. „Das dürfte schwierig werden."