Am Ufer stand eine einzige fensterlose Hütte, dabei lagen zwei Kähne, plumpen Pontons ähnlich, der eine leck und halb versunken, und im Hafen war unsriges das einzige Schiff. Man hätte sich ganz wohl an eine ferne indianische Küste, an der nie Europäer landeten, versetzt

glauben können."

Mit diesen Worten beschrieb der Deutsche Heinrich Alexander Pagenstecher in seinem Reisetagebuch aus dem Jahr 1867 die Bucht von Alcúdia. Heute, fast 150 Jahre später, haben Mensch und Massentourismus an dem Küstenabschnitt im Nordosten der Insel deutliche Spuren hinterlassen: Bettenburgen in vorderster Meeresfront, ein großer Hafen, in dem Fähren und Containerschiffe ein- und auslaufen, im Hintergrund ein rauchspuckendes Kohlekraftwerk. Doch am nördlichen Ausläufer der Bucht hat auf einem Landstrich namens Alcanada die Beschaulichkeit überlebt.

Zwischen dem stillgelegten Elektrizitätswerk am Ortsausgang von Port d´Alcúdia und dem einem Enkel von Ferdinand Porsche gehörenden Golfplatz (auf dem am 21. November das MZ-Golfturnier stattfindet) findet sich eine kleine, sogar zur Hochsaison recht verschlafene Siedlung mit vielen putzigen Häuschen und ohne nennenswerte Bausünden. Dazu ein natur­belassener Strand, an dem vom Wind krumm gebogene Kiefern Schatten spenden, und etwa 150 Meter vorgelagert im Meer das Alcanada-Inselchen mit dem 1861 erbauten Leuchtturm. Die belgisch-mallorquinische Autorin Elena Ortega und ihr Mann Cesc Mulet haben dem ungewohnt ursprünglichen Fleck Mallorcas nun erstmals ein Buch gewidmet - mit dem so unaufgeregten wie naheliegenden Titel „Alcanada".

„Die Familie meines Mannes erwarb dort in den 80er Jahren ein Ferienapartment", erzählt die gelernte Journalistin, die seitdem viele Sommer, aber auch traumhaft schöne Wintertage in Alcanada verbracht hat. Irgendwann kam die Idee auf, die Besonderheiten

und Geschichten rund um die Halbinsel in einem Buch festzuhalten, „das für Einheimische und Urlauber gleichermaßen interessant zu lesen ist". In den vergangenen beiden Jahren recherchierte die 53-Jährige - im Stadtarchiv von Alcúdia, im Internet, im Gespräch mit den Menschen vor Ort. Herausgekommen ist ein 170 Seiten starker Band mit historischem Bild­material, aktuellen Fotos von Cesc Mulet, verspielten Illustrationen von Santiago Palou und zehn auf Spanisch verfassten Kapiteln, die im Anhang ins Deutsche, Englische und Katalanische übersetzt wurden.

In der Geschichte geht Autorin Ortega bis ins erste Jahrhundert vor Christus zurück. Aus dieser Zeit stammten die ältesten Funde, die ein Höhlenforscher vor einigen Jahren im Untergrund der Halb­insel entdeckt hatte: große tönerne Wasserbehälter, die zur Versorgung einer großen Anzahl an Personen dienten - für die Besatzungen von Schiffen etwa, die in der Bucht ankerten. Die Quelle, in der sie einst aufgefüllt wurden, liegt „nur 100 Schritte vom Meer entfernt", gegenüber des Leuchtturminselchens. Der katalanische Militäringenieur Carlos Beranger schrieb 1734, dass das Alcanada-Quellwasser unter Seefahrern als das beste an der Mittelmeerküste gelte. Heute ist der unterirdische Brunnen von einem Häuschen überdeckt und nicht mehr nutzbar.

Längst nicht mehr genutzt ist auch der historische Wachturm, der etwas versteckt am Eingang der Halbinsel zwischen dem alten Elektrizitätswerk und der heutigen Siedlung liegt. Eine wichtige Rolle spielte die torre mayor ab dem 16. Jahrhundert, als die Insel wiederholt von Korsarenschiffen überfallen wurde. Daneben war die Halbinsel aber auch Zufluchtsort für Seefahrer und Fischer. Für mediales Aufsehen sorgte im 19. Jahrhundert der Schiffbruch eines schwedischen Schoners, dessen Besatzung von ein paar beherzten Fischern aus Alcúdia gerettete wurde - die dafür anschließend eine Belohnung von König Oskar I. von Schweden erhielten.

Der Name Alcanada geht zurück auf den während der Herrschaft der Araber (10. bis 13. Jahrhundert) auf der Halbinsel gegründeten Gutshof Albecanata (Al-kaddan), was „die weißen Steine" bedeutet. Nach der Eroberung Mallorcas durch Jaume I. wurde das Gebiet für die Anwohner freigegeben, die dort Felder bewirtschaften, ihr Vieh weiden lassen oder Brennholz und Pilze sammeln durften. Ab 1789 wurden die Landstücke unter neuen Siedlern, darunter vielen Menorquinern, verteilt. Heute beherbergen das Haupthaus und die Anbauten des ehemaligen Gutshofs den Golfclub Alcanada samt Restaurant.

Das Potenzial von Alcanada als Ziel für Sommerfrischler erkannte Anfang des 20. Jahrhunderts der aus Menorca stammende Architekt und Landschaftsplaner Nicolau Rubió. Er leitete in Barcelona die städtischen Parks und Gärten und erkannte die Schönheit der Halbinsel auf seinen Überfahrten von Menorca nach Katalonien vom Dampfschiff aus. Mit seiner 1933 entworfenen Ferien­siedlung, die einem traditionellen Fischerdorf nachempfunden war, strebte Rubió nach dem „Ideal des verlorenen Paradieses". Im Mittelpunkt stand das Hostal del Sol, das vor allem bei Franzosen beliebt war und inzwischen dem Hotel President ge­wichen ist - nach wie vor das einzige Hotel in Alcanada. Zwei der etwa 40 damals entstandenen, pittoresken Häuschen - ein weiteres Fortschreiten des Projekts stoppte 1936 der Ausbruch des Bürgerkriegs - hatte Architekt Rubió selbst als Urlaubsdomizil behalten. Sie sind, wie der Großteil der Siedlung, noch erhalten - eines davon bezog vor Kurzem ein Deutscher.

Während früher vor allem Mallorquiner aus Inca und Sa Pobla den Sommer in Alcanada ­verbrachten, besitzen inzwischen auch viele Festlandspanier und Ausländer Ferienhäuser oder Apartments in der Siedlung, die sich heute über drei, knapp einen Kilometer lange Straßenzüge erstreckt. Viele Einheimische hätten in der Krise angefangen, an Touristen zu vermieten, andere wiederum wohnten nun das ganze Jahr über dort, erzählt Elena Ortega. Obwohl das Restaurant mit der schönen Terrasse am Meer, die paar anderen Lokale und der kleine Supermarkt spätestens Ende Oktober in die Winterpause gehen. Dann kehrt die Beschaulichkeit in Reinform zurück.

Alcanada" gibt es für 15 Euro unter anderem in den Buchhandlungen Akzent, Dialog und Embat in Palma; mehr Infos: www.alcanadamallorca.com