Pflanzen können enorm wirksame Überlebensstrategien entwickeln, schließlich haben sie, wenn ihnen Gefahr droht keine Möglichkeit davonzulaufen. Welches Geschick Gewächse dabei entwickeln, erforscht Jaume Seguí in seiner Doktorarbeit. Er beobachtet die ausschließlich auf Mallorca vorkommende, endemische Veilchenart Violeta jaubertiana, auch Mallorca-Veilchen genannt.

„Die winzige Pflanze kommt ausschließlich in der Serra de Tramuntana vor", sagt der aus es Capdellà stammende Biologe. Der 29-Jährige absolvierte den Master für Biodiversität an der Universität in Barcelona und arbeitet seit 2013 im Instituto Mediterráneo de Estudios Avanzados (Imedea) in Esporles an dem Thema „Die Gefährdung der Ökosysteme im Gebirge durch den Klimawandel". Wissenschaftler im Parque Nacional del Teide auf Teneriffa sowie in den chilenischen Anden erforschen gleichzeitig verwandte Veilchenarten.

„Seit dem die Höhlenziege Myotragus balearicus auf der Insel lebte, haben die Pflanzen Mallorcas Überlebensmechanismen entwickelt, um sich gegen Fressfeinde zu wehren", sagt der Botaniker. Zu welcher Zeit die ersten Vegetarier unter den Säugetieren auf die Insel kamen, ist schwer zu sagen. Sicher ist, dass die endemische Wild­ziege aus unerklärten Gründen ausgestorben ist, als die Menschen begannen, die Insel zu besiedeln und neue Arten von Pflanzenfressern einführten. „Um nicht gefressen zu werden", sagt Seguí, „ mussten die Gewächse Strategien entwickeln". Das Igelpolster bildete beispielsweise, wie viele andere Inselpflanzen auch, zum Schutz ein dichtes Gestrüpp aus Dornen und Stacheln.

Das endemische Veilchen hingegen zog sich in einen Lebensraum zurück, der für Fressfeinde unerreichbar war. „Wir haben die Veilchenart zwar auch auf Waldböden gefunden", sagt der Mallorquiner, „doch dort hat keine von ihnen das Alter erreicht, in dem es zu einer Reproduktion hätte kommen können." Wilde Ziegen wären über die schmackhaften Blüten und Blätter hergefallen. Im Jardí Bòtanic in Sóller konnte sich das Veilchen jedoch über die Jahre erfolgreich ausbreiten. „Daraus schließen wir, dass die Pflanze durchaus auch auf ebener Erde gedeihen könnte, gäbe es ihre Fressfeinde nicht", sagt der Wissenschaftler.

Heute kommt das Mallorca-Veilchen in Ritzen der Felshänge in der Nähe der Mündungen von torrentes vor. Wie beispielsweise im Torrent de Pareis, im Torrent de na Mora sowie im Barranc Gorg dels Diners am Puig Major, aber auch in Felsspalten des Puig de Massanella. Es sind nicht mehr viele Exemplare: Die Violeta jaubertiana zählt zu den europäischen Pflanzenarten, die nach dem Berner Artenschutzabkommen vom Aussterben bedroht und streng geschützt sind.

Vier Jahre lang wird die Erforschung des Veilchens insgesamt dauern, die Feldforschung gestaltet sich nicht gerade einfach. Denn der Reproduktionszyklus der Pflanze beginnt Ende Januar. Um dies zu dokumentieren, beobachtet Seguí auf einer hohen Leiter die Standorte in den Felswänden. Im Winter 2013/14 konnte er die ersten violetten Blüten des Veilchens fotografieren, die sich im Februar und März bilden und nicht duften. Die Frage, die es zu beantworten galt, lautete: Welche Insekten bestäuben die Blüten bei den niedrigen Temperaturen, die im Gebirge zu dieser Jahreszeit herrschen? „Wir beobachteten gut 40 Stunden vor Ort - es gab keine Insektenbesucher", erklärt der Mallorquiner. Nach der Blüte bildeten sich auch keine Früchte.

Die für seine Arbeit wichtigste Frage konnte erst im April beantwortet werden, als sich an der Pflanze weitere unscheinbare weiße Blüten bildeten, die sich gar nicht erst öffneten. Der Botaniker konnte daraufhin beweisen, dass das Mallorca-Veilchen zu den Gewächsen zählt, die sich durch sogenannte Kleistogamie vermehren, wie Botaniker die Selbstbestäubung einer Pflanze nennen. Die Staubbeutel entleeren dabei ihre Pollen auf die Narbe innerhalb der Blüte, die Samen reifen zu kugeligen Kapseln, die später aufspringen und ihren Samen verschleudern. Weder Wind noch Insekten beteiligen sich bis hierhin an diesem Vorgang.

Viele weitere Stunden in der Nähe der Felswände der - manchmal mit Wasser gefüllten - torrentes waren notwendig, um ­herauszufinden, wie die Samen, die zu Boden gefallen sind, in die Felsritzen gelangen. „Ameisen transportieren sie nach oben", sagt Seguí. Er konnte beobachten, wie die Samen, die von der Größe her wie für Ameisen gemacht sind, diese anlockten. Die Krabbler bringen die Körner in ihre Felsnester, fressen die ihnen schmeckenden Teile auf und lassen den Rest zum Keimen in Nestnähe nieder, wo sie ideale Wachstums­bedingungen vorfinden.

Der Rückzug in die Felswände war in der Vergangenheit eine erfolgreiche Strategie. Gegen die Klima­erwärmung wird er das Mallorca-Veilchen womöglich nicht schützen. Denn die Selbstbefruchtung führt dazu, dass die Pflanze immer die gleichen Gene, also Kopien von sich selbst produziert. „Es ist erwiesen, dass Pflanzen mit vielfältigerem Erbgut besser für Veränderungen gerüstet sind", sagt Seguí.

Für seine Doktorarbeit tauscht er sich mit den Kollegen auf Teneriffa aus. Sie beobachten das Teide-Veilchen (Viola cheiranthifolia), das in der Höhe zwischen 2.200 bis 3.700 Metern auf dem Pico de Teide vorkommt. Diese Veilchenart hält extreme Temperaturschwankungen aus. Es hatte - im Gegensatz zum Mallorca-Veilchen - keine Zeit, sich an nicht heimische Kaninchen und Wildschafe anzupassen und gilt deshalb als sehr gefährdet.

Die Anden-Veilchen beobachtete der Mallorquiner mit seinen chilenischen Kollegen von Dezember 2014 bis Februar 2015 im

patagonischen Sommer. Nahe Puerto Montt wachsen die Viola cotyledon und Viola maculata. Die Pflanzen sind in verschiedenen Höhenlagen unterschiedlichen Temperaturen ausgesetzt. „Das gibt uns interessante Daten über Bestäubung und Wachstumsprozess bei Klimaveränderungen", sagt Seguí.

Die botanischen Daten aus der Serra de Tramuntana, dem Teide und aus den Anden werden nach Abschluss der Studie Auskunft darüber geben, wie gefährdet die artenreichen Gebirgs-Ökosysteme durch die Klimaerwärmung sind. Als wahre Überlebenskünstler können die Veilchenarten dazu wichtige Informationen liefern.