Erst nach dem Interview nimmt Maria del Mar Bonet die Sonnenbrille ab. Für die Fotos. Dann sagt sie, sie hätte lieber mehr über Kultur geredet als über Gesellschaft und Politik. Etwa wie sie, die Sängerin mit ihrer fünf Jahrzehnte währenden Karriere, ihrem Publi­kum die Poesie von mallorquinischen Dichtern wie Miquel Costa i Llobera oder Bartomeu Roselló-Pòrcel nähergebracht hat. Dass Menschen sich mit der katalanischen Sprache auseinandergesetzt haben, um ihre Texte zu verstehen. „Und das in Madrid und Andalusien!" Vielleicht zeigen diese Beispiele am besten, welche Bedeutung Bonet hat. Sie ist eine der herausragenden Vertreterinnen der „Nova Cançó", dem neuen Lied, einer musikalischen Bewegung, die vor allem ab den 60er-Jahren das neue katalanische Selbstbewusstsein in der Franco-Diktatur repräsentierte. Im Alter von 20 Jahren zog sie nach Barcelona, seitdem pendelt sie zwischen der Großstadt und ihrer Heimat, der Insel.

Frau Bonet, Sie wurden vor 69 Jahren auf Mallorca geboren. Erzählen Sie uns, was das für ein Ort war?

Es war alles anders. Wir lebten damals in einer Diktatur, das hat den Menschen nicht viele Möglichkeiten gelassen. Und es sah hier ganz anders aus. Die meisten Strände etwa waren unberührt.

Hat sich das Leben der Mallorquiner seitdem verbessert?

Es hat sich verändert. Es gibt sicherlich positive Aspekte. Die Menschen haben mehr Arbeit, es gibt Meinungsfreiheit. Aber die negativen Entwicklungen wie der Umstand, dass auf so kleinem Raum überall gebaut wird oder dass die Insel generell überlaufen ist, sind nicht zu übersehen. Und dann ist da noch die Tatsache, dass trotz der Demokratie die spanischen Politiker nicht in der Lage sind, unsere Kultur zu respektieren.

Droht tatsächlich so eine Gefahr für die mallorquinische Kultur aus Madrid?

Nicht nur. Auch hier gibt es Menschen, die denken, dass wir mehr Madrilenen sind als Mallorquiner. Aber, falls sie das nicht wussten: Sie sprechen hier mit einer Sängerin, nicht mit einer Politikerin.

Das stimmt, aber Sie sind eine Symbolfigur der mallorquinischen Kultur.

Nein, ich bin, was ich bin. Ich bin für nichts anderes verantwortlich als für meine Arbeit.

Gut, vergessen wir die Politik. Sie pendeln seit fast 50 Jahren zwischen Mallorca und Barcelona. Sieht man die Insel von außen objektiver?

Ich glaube, es ist generell gut, rauszugehen, weil man sonst die Dinge aus den Augen verliert, die man direkt vor der Nase hat.

Was haben Sie entdeckt?

Eine Million verschiedener Dinge.

War es für Ihre künstlerische Entwicklung notwendig, Mallorca zu verlassen?

Absolut. Ich habe unglaublich viele Chancen gehabt, habe Dinge lernen können, die ich sonst nie gelernt hätte. Seien es die Lehrer, die ich gehabt habe oder die Plattenfirmen, die es in Barcelona gab und auf Mallorca nicht. Oder sei es die Gruppe Setze Jutges, der ich beigetreten bin, oder einfach die Freiheit, die dadurch entsteht, das Elternhaus zu verlassen.

Bestand jemals die Gefahr, dass Sie Mallorca vergessen? Dass Ihnen die Freiheit in Barcelona mehr bedeutet als Ihre Wurzeln?

Das ist eine absurde Idee. Ich bin von hier. Es ist mir sehr wichtig, auf Mallorca geboren zu sein. Ich gehöre hierher.

Was kennzeichnet diese Wurzeln? Welche Eigenschaften Mallorcas haben Sie sich erhalten?

Das erklärt, glaube ich, mein Werk am besten, vom ersten bis zum letzten Album. Hier fließt alles ein, was ich als Kind und auch später gelernt habe, die Farben, das Licht, die Poesie der Insel.

Haben die Kinder heute die gleiche Chance, diese Kultur kennenzulernen?

Ich weiß es nicht. Es gibt Dinge, die man nicht in der Schule lernt. Es hängt sehr davon ab, wie diese kulturellen Werte in der Familie und im Umfeld bewertet werden. Und es macht mich traurig zu sehen, dass manche Dinge in der Schule nicht gelehrt werden, die Musik und die Poesie etwa. Diese Dinge sind mir auch zu Hause vermittelt worden. Aber es gibt generell kein gesellschaftliches Interesse an der Kultur.

Woran machen Sie das fest?

Schauen sie sich mal die Politik an. Sie ist weit entfernt von der Kultur. Bei den letzten Wahlen habe ich mir mal die Mühe gemacht, bei Politiker­reden darauf zu achten, wann sie über Kultur sprechen. Keiner von ihnen hat das getan. Nicht mal die Jungen, nicht mal die Linken.

Ihr Freund, der Liedermacher Lluis Llach, engagiert sich politische in Katalonien.

Ja, das ist ein Einzelfall, ein guter, aber ein Einzelfall. Und er kämpft in erster Linie für die Unabhängigkeit Kataloniens.

Warum wählen wir Politiker, die sich nicht für die Kultur engagieren?

Das frage ich mich auch immer. Vor allem: Warum wählen wir diese rechten Parteien, die gegen unsere Sprache und gegen unsere Kultur sind?

Haben Sie eine Antwort gefunden?

Nein, nur dass die Menschen Angst haben. Sie haben Angst vor der

Veränderung. Vor allem aber haben sie Angst vor der Freiheit.

Macht nicht auch Ihnen die Freiheit manchmal Angst?

Nein, im Gegenteil. Ich bin immer ins Leere gesprungen. Als Musiker hat man keine Sicherheit. Ich weiß nicht, ob ich nächstes Jahr auftreten werde, ob meine Platte erscheinen wird. Es gibt kein Netz und keine festen Arbeitsverträge. Es muss einem schon gefallen, so zu leben.

Der MZ-Fotograf mischt sich ein: Sind Sie wütend auf dieses System, das die Kultur so missachtet?

Um Himmels willen, dann wäreich ja den ganzen Tag wütend. Das will ich nicht. Als wir Franco ­hatten, lebten wir in einer Diktatur, die jedem die Freiheit abschnitt. Jetzt sind die Neffen von Franco dran, und auch wenn sich viel geändert hat, ist der Mief dieses Systems hin und wieder noch zu vernehmen. Natürlich hatten wir unter den Sozia­listen ein paar Jahre, unter denen es eine gewisse Offenheit gab, aber auch diese Herren waren espanyolistes, also spanische Natio­nalisten. Die haben sich nicht groß um unsere Sprache und Kultur geschert. Genauso wenig wie ums Galicische oder das Baskische. Sie haben viel für die Arbeiter gemacht, aber sie haben nie gesehen, was für einen kulturellen Reichtum Spanien hat. Und irgendwann haben die Menschen so eine Politik satt, in der sie nicht respektiert werden. Deshalb erscheint es mir richtig, dass Katalonien Basta sagt. Die spanischen Politiker haben nie anerkannt, was für einen Wert Katalonien für Spanien hat.

Warum reagieren die spanischen Nationalisten so empfindlich auf die anderen Kulturen?

Ich habe keine Ahnung. Wir haben hier einen unglaublichen kulturellen Reichtum, aber diese Leute sehen es als Mangel. Wenn man eine Sprache tötet, tötet man ein Stück Menschheit. Und die Leute haben das satt. Und ich sage Ihnen noch etwas: Wenn man jemanden bei sich behalten will, wie Spanien Katalonien, sollte man ihm Zuneigung und Liebe schenken, nicht Hass und Beleidigungen. Für so etwas gibt es die Scheidung. Und das ist auch gut so. Solange Gesundheit und Respekt da sind, sollen sich die Leute ruhig scheiden lassen. Wo ist das Problem?

Sollte Mallorca Katalonien in die Unabhängigkeit begleiten?

Jetzt fangen Sie schon wieder mit der Politik an. Ich bin Musikerin.

Aber Sie haben das Thema doch angeschnitten. Wir waren gerade mitten in einer Diskussion.

Aber mich interessiert das doch alles gar nicht so sehr. Warum soll ich als Sängerin sagen, was passieren wird und was nicht?

Gut, kein Problem, reden wir über etwas anderes. Viele Menschen, die nach Mallorca kommen, wollen lieber Spanisch lernen als Katalanisch. Sollte man ?

(unterbricht) Diese Leute sollten sich besser informieren, wo sie hingekommen sind. Wenn ich irgendwo hinziehen möchte, informiere ich mich doch auch über die Kultur und das Land. Es gibt Bücher, die man lesen kann, man kann in Museen gehen, sich die Musik des Landes anhören und sich sein Theater angucken. Und dann stellt man auch fest, welche Sprache in diesem Land oder auf dieser Insel gesprochen wird.

Sollten die Mallorquiner mehr tun, um die Ausländer zu ermutigen, sich mit Sprache und Kultur zu beschäftigen?

Nein. Die Menschen, die herkommen, sollten sich dessen bewusst sein, wo sie sind. Und man kann ja immer entscheiden, dass man etwas blöd findet, aber zunächst sollte man es doch kennenlernen und ausprobieren.

Manche würden argumentieren, dass sie nach Spanien gekommen sind und deshalb Spanisch sprechen.

Das zeigt ja nur die Ignoranz dieser Leute.

Hat die Internationalisierung der Inselbewohner aber nicht auch zu einer Öffnung der Gesellschaft geführt?

Ich weiß nicht. In welchem Sinne meinen Sie das?

Man tauscht sich aus, dadurch lernt man Neues. Das könnte man als Bereicherung empfinden.

Ich denke, wenn Menschen kommunizieren, dann kann Gutes dabei

herauskommen. Wenn Sie jetzt aber von einer Weltkultur sprechen, das finde ich nicht so spannend.

Gleichzeitig haben Sie viel mit Musikern aus Ländern wie Tunesien, Syrien oder Ägyptenzusammengearbeitet. Für Ihr neues Album sind Sie nach Kuba gereist.

Ja, genau. Das habe ich mir ausgesucht. Was hat das mit Ihrer Frage zu tun? Nichts. Das hat mit meiner Unabhängigkeit und meinem ­Wissensdurst zu tun. Denn hier habe ich nichts von diesen Kulturen mitbekommen. Und das, obwohl hier Menschen aus Tunesien gelebt haben.

Aber das beantwortet doch die Frage.

Das hat mit meiner Einstellung zum Reisen zu tun. Nehmen Sie etwa Ramon Llull. Der ist bereits im Mittelalter nach Damaskus, nach Algerien, nach Italien gereist ... überall ist er hin, um mit anderen Philosophen zu sprechen. So etwas Ähnliches versuche ich mit meiner Arbeit, ich suche den musikalischen Dialog.

Diese Chance haben nicht alle Menschen. Fühlen Sie sich privilegiert?

Nein, überhaupt nicht. Ich bin keine Privilegierte, ich bin eine Besessene. Ich setze alles daran, um meine Interessen zu verfolgen. Das ist eher eine Berufung. Es ist Wissensdurst, auch um die eigenen Wurzeln besser kennenzulernen. Als Kind des Mittelmeers möchte ich dieses so gut wie möglich kennenlernen. Das afrikanische Mittelmeer, Griechenland, Italien, Südfrankreich. Das hat alles mit mir zu tun, und darüber mehr zu lernen, ist Besessenheit, Hingabe, Zuneigung. Ein Traum.