Fünf Jahre lang hat Cassandre Balosso-Bardin die mallorquinische Sackpfeife Xeremia und ihre Geschichte erforscht und dem Instrument eine Doktorarbeit an der Londoner Universität SOAS gewidmet. Jetzt war die französische Musikerin und Musikethnologin auf Mallorca, um ihr Wissen in der Heimat des Instruments kundzutun.

Warum haben Sie sich ausgerechnet die Xeremia für Ihre Doktorarbeit ausgesucht?

Ich bin ausgebildete Flötistin und spiele vor allem Alte Musik. Vor zehn Jahre habe ich den galici­schen Dudelsack entdeckt und mich in das Instrument verliebt. Seitdem spiele ich auch Folkmusik in verschiedenen Gruppen. Schnell war mir klar, dass ich meine Doktorarbeit über das Ins­trument ­schreiben wollte, allerdings ist die galicische Gaita schon ziemlich gut erforscht. Deshalb zog ich zunächst die bulgarische Variante, die Gajda, in Betracht, entschied mich aber schließlich für Mallorca: Die Xeremia ist wenig erforscht. Meine Doktorarbeit ist die erste wissenschaftliche Publikation zum Thema.

Wie kann das sein? Man hört die Xeremia doch bei allen Dorf­festen.

Man hört sie aber auch nur dann. Das heißt, man hört sie nicht einfach so auf der Straße oder bei Folkfestivals oder gar bei einer Jamsession. Wenn auf Mallorca eine Xeremia erklingt, weiß man, jetzt passiert etwas: der Auftakt eines Dorffestes, eine Hochzeit, eine Prozession, ein offizieller Anlass. Und zum Volkstanz, da erklingt sie auch.

Gibt es Gruppen, die die Xeremia international bekannt machen?

Ja, die Instrumentalgruppe Boc zum Beispiel. Und es gibt moderne Folkgruppen, die die Sackpfeife integriert haben. Allerdings treten die vor allem im katalanischsprachigen Raum auf.

Was unterscheidet eine Xeremia von der keltischen Variante?

Auffällig ist der Sack, er ist viel größer. Dann hängen die bordons, die Holzrohre, die die Begleittöne erzeugen, vor dem Spieler nach unten. Bei anderen Modellen liegen sie auf der Schulter und ragen in die Luft. Das ändert die gesamte Morphologie des Instruments.

Spielt man sie auch anders?

Nein, die Spieltechnik ist dieselbe. Ein Dudelsack ist ja eigentlich eine Flöte für Faule: Der Sack erleichtert dem Spieler die Atmung, er ist wie seine Lunge. Ihr Einsatz ist allerdings etwas Besonderes: Der Xeremia-Spieler tritt immer mit einem anderen Musiker auf, der die Einhandflöte (vlabiol) und die Handtrommel (tamboril) spielt. Beide Instrumente sind ­gleichberechtigt. Man hört eine Sackpfeife hier eigentlich nie allein. Dieses Duo nennt man colla. Mitte des 20. Jahrhunderts waren die colles übrigens fast verschwunden. Erst seit den 70er-Jahren hört man sie wieder. Das ist vor allem Antoni Artigues zu verdanken, der mit Pep Toni Rubio und Pep Rotger eine der ersten colles gründete, die Xeremiers de Sa Calatrava. Heute boomt das Ins­trument, es gibt sicher 500 Spieler.

Was haben Sie bei Ihrer Recherche auf Mallorca erlebt?

Ich habe hier 2011 und 2012 gelebt. Mallorca ist mein zweites Zuhause geworden. Heute gibt es rund 500 xeremiers auf der Insel, darunter sind viele gute Musiker mit eigenem Repertoire: Sie spielen alte oder traditionelle Musik, manche mit eigenen Arrangements. Bei meiner Arbeit habe ich auch die soziale Rolle des Instruments entdeckt. Es verbindet die Mallorquiner, hält sie zusammen. Man hört es vor allem im Inselinneren, in den Dörfern. Auch deshalb ist es noch recht unentdeckt: Typische Pauschaltouristen bekommen es gar nicht mit.

Gibt es Dokumente, die den Ursprung auf Mallorca belegen?

Das älteste Zeugnis ist die Abbildung eines Dudelsack spielenden Engels am südlichen Eingang zur Kathedrale, dem Portal del Mirador. Auch im mittleren Altarbild der Kathedrale ist eine Xeremia zu sehen, wenn das Instrument auch anders ist als die heutigen. Der Künstler war vermutlich der Steinmetz Joan Morey, der im 14. Jahrhundert gelebt hat. Früher wurde die Sackpfeife am Königshof gespielt, heute wird sie mit dem Landleben assoziiert.

Wann hat sich dieser Wandel vollzogen?

Aus der Zeit zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert gibt es kaum Zeugnisse. Krippenfiguren aus dem 18. Jahrhundert belegen, dass vor allem Schäfer das Instrument gespielt haben, und zwar in seiner heutigen Form. Es war wohl so, dass die Schäfer vor allem nachts spielten, um wach zu bleiben und um dem Grundbesitzer zu signalisieren, dass alles in Ordnung war. Tagsüber wurden die Herden in einer Hütte vor der Sonne geschützt und der Schäfer konnte schlafen. Später, im 19. Jahrhundert, schilderten dann die ersten Reisenden die Musik bei Dorffesten, manche als „unerträglichen Lärm, der die Ohren durchbohrt".

Welche Gruppen finden Sie auf der Insel besonders interessant?

Zur Präsentation meiner Arbeit habe ich drei Gruppen eingeladen, die mir besonders gefallen: eine junge colla aus Pollença, die traditionelle Musik spielt, dann die Xeremiers de Sóller, weil sie eine große Gruppe mit eigenen Arrangements sind, und schließlich die Xeremiers del Puig de Sa Font aus Son Servera. Sie haben Geigen und andere Blasinstrumente in der Gruppe und spielen auch mittel­alterliche Musik.

Die Doktorarbeit erscheint demnächst als Buch. Informationen: www.cassandrebalossobardin.com