Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmals im Jahr 2017 in der MZ veröffentlicht.

Was Gabriela Cañellas bei sich zu Hause im beschaulich-ruhigen Vorort Pla de Na Tesa bei Palma de Mallorca an die schlimmsten Tage ihres Lebens erinnert, ist in einem feuerroten Fotoalbum verborgen. „Meine Eltern haben jahrelang alle möglichen Zeitungsausschnitte über die Entführung der 'Landshut' hineingeklebt", sagt die 58-Jährige. Sie sitzt mit dem MZ-Reporter auf der Terrasse.

Die deutsch-spanische Mallorca-Residentin war gerade 18 Jahre alt geworden, als sie am 13. Oktober 1977 mit ihrem Vater, dem Fußballfunktionär Horst-Gregorio Cañellas, in Palma in jene Boeing 737 der Lufthansa stieg, die eigentlich nach Frankfurt fliegen sollte. Die Maschine wurde von einem vierköpfigen palästinensischen Kommando entführt, das Terroristen der Rote-Armee-Fraktion (RAF) in Deutschland aus der Haft freipressen sollte. Der Irrflug endete bekanntlich mit der Befreiung der Geiseln und der Erschießung von drei Terroristen durch GSG-9-Männer fünf Tage später, am 18. Oktober, in Mogadischu, der Hauptstadt des nordostafrikanischen Wüstenstaates Somalia.

Die Details verdrängt

„Der Flug war ein Geschenk für mich zum 18. Geburtstag", erinnert sich Gabriela Cañellas und lächelt. „Eine Woche lang wollten wir eigentlich in Deutschland shoppen." Stattdessen wurde es ein Höllenritt. Die junge Frau hat ihn weitgehend verdrängt. Es sei „zu schrecklich, um sich an alles zu erinnern", sagt sie. Das betreffe auch andere Dinge, die sie in jener Zeit erlebt hatte. „Das war mein System der Aufarbeitung."

Doch so schnell und gründlich Gabriela Cañellas das belastende Horror-Erlebnis loswerden wollte, das Durchlittene hatte sich tief in ihre Seele gebrannt. „Ich habe die erste Zeit danach bei meinen Eltern im Bett geschlafen und bin nicht aus dem Haus gegangen." Sie hat die Schule San Cayetano in Palma trotzdem zu Ende gebracht und dann spanische Philologie an der UIB studiert. Später arbeitete sie in einer Modeboutique an der Einkaufsstraße Jaume III. in Palma, bis sie 1994 ihr eigenes Unternehmen gründete, um Sport­events zu organisieren. Unter anderem hilft sie bei der Ausrichtung des Marathons in Palma und beim Ironman auf Mallorca.

Noch heute sieht Gabriela Cañellas, die als Zwölfjährige mit ihren Eltern aus ihrem Geburtsland Deutschland nach Mallorca gekommen war, einige ihrer Verhaltensweisen als Nachwirkungen der „Landshut"-Entführung. „Wenn ich in einem Flugzeug sitze - Flugangst habe ich nicht - schaue ich mir automatisch genau die Menschen an, die hereinkommen", sagt sie.

Plötzliche laute Geräusche lassen sie aufschrecken, Menschenmengen - die 82 Passagiere und vier Besatzungsmitglieder der „Landshut" vegetierten während der Entführung tagsüber und nachts auf engstem Raum - meidet sie lieber. Einen Psychologen allerdings suchte Gabriela Cañellas nie auf, nach 40 Jahren glaubt sie, das Entführungstrauma verarbeitet zu haben. „Im Gegensatz zu mir wollte mein Vater aber immer über die Entführung sprechen und das alles rausholen", sagt sie. 1999 ist der Vater im Alter von 78 Jahren an Lungenkrebs gestorben.

Hitze und Gestank

Pilot Carlos Torres war zwar selbst nicht in dem entführten Flugzeug, aber er weiß wie kaum ein anderer Mallorquiner über den Terrorakt zu berichten. Einer seiner besten Freunde, der inzwischen verstorbene Pilot Alberto Cerezo, war an Bord der „Landshut". „Ich arbeitete damals für die Airline TAE, wir reisten manchmal in Zivil nach Deutschland, wo wir dann ­uniformiert Flugzeuge übernahmen und Touristen zu Zielen überall in Spanien flogen", sagt er. Carlos Torres befand sich während der Entführung der „Landshut" auf einem Flug zwischen der finnischen Hauptstadt Helsinki und Las Palmas de Gran Canaria. Kollegen trugen ihm die Schreckensnachricht zu. „Alberto Cerezo sagte mir einmal, dass ihm die anhaltende extreme Hitze von mehr als 40 Grad in der Kabine, die verdreckten Toiletten und vor allem der Geruch der Leiche des Piloten Jürgen Schumann zu schaffen machten."

Zohair Youssif Akache, der Anführer der Terroristen, hatte den Deutschen bei einer Zwischenlandung­ in der südjemenitischen ­Hauptstadt Aden vor aller Augen im Flugzeuggang erschossen und den Toten in einem Schrank deponiert. „Um den Co-Piloten Jürgen Vietor, der nun allein fliegen musste, nicht in Lebensgefahr zu bringen, hüteten sich Alberto Cerezo und sein Kopilot Jaime Deyá davor, sich gegenüber den Terroristen als Flugzeugführer zu identifizieren", sagt Carlos Torres. Neben den beiden saßen auch noch vier weitere Mitarbeiter der 1982 eingestellten Airline TAE in der Landshut - der Flugingenieur Alberto López, die Chef-Stewardess Pilar Díaz Maroto, Steward Ramón Gómez und Stewardess Elisa van der Elst.

Am falschen Ort

Sie alle waren zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort, in Deutschland tobte mit dem „Deutschen Herbst" eine der schwersten Krisen der Bundesrepublik. Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin saßen im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim. Nach der gewaltsamen Befreiung der „Landshut" begingen die Terroristen Selbstmord. Die damals ebenfalls inhaftierte Irmgard Möller überlebte schwer verletzt. Die Terrororganisation RAF tötete daraufhin den schon am 5. September in Köln auf der Straße entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer.

Die Terroristen auf Mallorca

Zohair Youssif Akache, Souhaila Andrawes, Nadia Duaibes und Hind Alameh hatten - damals gab es noch keine Handgepäck­kontrollen in den Flughäfen - Waffen in die „Landshut" geschmuggelt, die sie auf Mallorca in Pralinenschachteln von der Terroristin Monika Haas erhalten hatten. Haas wurde deswegen 1998 zu fünf Jahren Haft verurteilt.

In Palma waren die Palästinenser knapp eine Woche vor der Entführung in den noch heute existierenden Hotels Saratoga und Costa Azul abgestiegen. Die Ermittlungen ergaben, dass sie sich im Nachbau des Giralda-Turms von Sevilla im Pueblo Español eine Flamenco-Aufführung anschauten und in der Stadt T-Shirts mit dem Konterfei des Revolutionärs Ernesto „Che" Guevara kauften. Die trugen sie während der Entführung. Die Fotos der einzigen überlebenden Terroristin Souhaila Andrawes mit dem Antlitz des Argentiniers nach ihrer Festnahme gingen samt dem „Victory"-Zeichen, das sie machte, um die Welt.

Menschen ändern sich

Gabriela Cañellas sitzt auf ihrer Terrasse in Pla de Na Tesa. Man sieht ihr an, dass es ihr unangenehm ist, über die schrecklichen Ereignisse von damals zu sprechen. Dass die einzige Überlebende des palästinensischen Terrorkommandos nach nur wenigen Jahren in Haft in Somalia und Deutschland - sie hatte schwere gesundheitliche Probleme - heute friedlich mit 64 Jahren samt Ehemann und einer Tochter in der norwegischen Hauptstadt Oslo wohnt, war ihr nicht klar. „Menschen können sich halt ändern", sagt sie zum Abschied und klappt das rote Fotoalbum mit den Zeitungsausschnitten zu.

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