Für die einen ist Heimat der Blick auf den Puig Major, für die anderen auf den Großglockner. Aber was steckt hinter dem Begriff, der in Zeiten von Globalisierung und Flüchtlingswellen eine Renaissance erlebt? Der Schriftsteller und Essayist Christian Schüle beschäftigt sich mit dieser Frage in seinem Buch „Heimat - ein Phantomschmerz" (Verlag Droemer, 19,99 Euro). Es handelt vom Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Identität - sei es bei Einheimischen, Flüchtlingen oder auch Mallorca-Auswanderern.

In Ihrem Buch beschreiben Sie ein Dorf im Herzen der Insel, in dem die Heimat der Mallorquiner zu verschwinden droht. Welchen Ort meinen Sie?

Alaró. Als Freund der Insel kenne ich den Ort sehr gut, ich war in den vergangenen zehn Jahren regelmäßig für einige Wochen im Jahr im alten Dorfteil.

Inwiefern verschwindet die Heimat in Alaró?

Das kommt auf die Perspektive an. In den vergangenen vier, fünf Jahren sind die Zu-Verkaufen-Schilder an den schönen alten Häusern mehr geworden. Wenn die Kinder die Elternhäuser nicht mehr übernehmen und die kernsanierten Immobilien zum Verkauf angeboten werden, schlagen kapitalintensive Mieter und Käufer aus Großbritannien, Deutschland, Österreich oder der Schweiz zu. Dass das eine Entkernung von Heimat ist, nehme auch ich als Besucher wahr - und trage letztendlich als Gast selbst dazu bei.

Was meinen Sie mit Entkernung von Heimat?

Auch in deutschen Dörfern kann man gut beobachten, wie die Authentizität verloren geht. Angesichts der Sehnsucht vieler ausländischer Touristen und im Sinne der Tourismusindustrie wird dann das ­inszeniert, was früher einmal da war. Die Blumenkästen an den Fassaden oder das Handwerk kehren aber nicht als Selbstbeschreibung der Gesellschaftsordnung zurück, sondern als Wirtschaftsfaktor. Es wird eine Kulisse inszeniert, und dadurch wird der Heimatbezug entkernt. Denn Heimat ist in Wirklichkeit ein großes Gefühl und hat viel mit Geborgenheit und Vertrautheit zu tun.

Ist es nicht auch der Modernisierung einer Gesellschaft geschuldet, wenn in Alaró statt der Schmalzschnecke Ensaimada jetzt das Biobrot Einzug hält?

Sie haben recht, aber gerade die traditionellen Produkte gibt es schon seit Jahrhunderten. Verschwinden sie durch einen globalen Lifestyle, gehen auch die liebenswerte Unterschiede der Länder Europas verloren. Kaffeeketten wie Starbucks vertreiben überall das Gleiche, und dadurch verschwindet die Vielfalt und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Im freien Handel kann sich jeder überall niederlassen. Aber auf der anderen Seite haben wir die Aufgabe, Kultur zu schützen. Die Ensaimada ist ein Kulturgut, und Münchner Biobrot auf Mallorca empfinde ich als Heimatverlust. Das ist nicht reaktionär und konservativ, sondern der Wunsch nach Vielfalt.

Starbucks gibt es erst seit Kurzem auf Mallorca.

Das kann man positiv sehen. Mallorca hat sich seine Café- und Bar-Tradition noch bewahrt. Aber wenn US-Unternehmen zunehmend Fuß fassen, wird das bei einigen ausländischen Urlaubern auf Zuspruch stoßen. Das ist eine vertraute Marke und berechenbar, da kann man nichts falsch machen. Da verliert man auch den Mut, etwa in eine alteingesessene Bar zu gehen und sich auf fremde Traditionen einzulassen.

Andererseits beschreiben Sie in Ihrem Buch, dass es gerade das Fremde braucht, um sich mit seiner Heimat zu identifizieren. Da sind ja dann die Mallorquiner wohl klar im Vorteil, oder?

Das ist ein interessanter Gedanke, das kann gut sein. Die Deutschen und die Briten stellen eine Art Fremdbestimmung dar, es gibt erhebliche Widerstände gegen die Besuchermassen. Das trägt dazu bei, dass sich ein klares Wir-Gefühl ausbildet. Wird dieses Gefühl jedoch politisiert, wird es problematisch. In Deutschland gibt es einen durchaus vergleichbaren Effekt angesichts der Wirtschaftsmigranten. Wir würden das schnell als rechts beschreiben. Aber bei einigen ist es zunächst einmal eine Rückbesinnung auf die eigenen Mythen und die eigene Kultur. Ich wünsche mir eine offene Gesellschaft, kann aber nachvollziehen, dass Gruppen sich abschotten. Es ist eine politische Aufgabe, zwischen diesen beiden Positionen klug zu vermitteln.

Kann es sein, dass die Mallorquiner pragmatischer mit dem Heimatbegriff umgehen? Schließlich werden hier auch immer wieder neue Traditionen erfunden, zum Beispiel in Form neuer Fiestas.

Ich finde es sehr sympathisch, von sich aus aktiv zu werden und zu überlegen, was zum Beispiel das Wesen eines Dorfes ausmacht. In Deutschland kennt man das etwa vom Heimat­sound-Festival in Oberammergau, wo klassische Volksmusik mit globalem Musik-Lifestyle auf die Bühne gebracht wird. Ich plädiere dafür, Heimat als kulturellen Prozess und weniger als geografische Herkunft zu sehen. Es geht nicht um „mein Stück Land", sondern um die gemeinsamen Werte einer Gesellschaft.

Sie beschreiben besonders den Heimatverlust der Flüchtlinge. Inwieweit können auch Mallorca-Auswanderer Heimat als Phantomschmerz verspüren?

Sie verlassen freiwillig ihre Heimat und ziehen auf eine Insel, die von Glück und Schönheit gesegnet ist. Manche haben allerdings Schwierigkeiten, Wurzeln zu schlagen, und kehren zurück. Andere verlagern ihre Heimat auf die Insel. Das ist dann allerdings der schleichende Verlust der Heimat für die Einheimischen.

Vielleicht fühlen sich manche auch erst auf Mallorca richtig als Deutsche. Sie schreiben: „In der Abwesenheit ist Heimat expliziter anwesend als in der Unmittelbarkeit der Anwesenheit."

Das ist ein faszinierender Vorgang. Wenn man seinen Fuß in ein anderes Land setzt, nimmt man schließlich seine Prägung mit. Heimat wird über Erinnerung beständig reinszeniert. Es ist ein Zufall, wo man geboren wird, aufwächst und das Urvertrauen lernt. Im Ausland muss dann dieser Geborgenheitsraum wieder aufgebaut werden. Kommen dann sprachliche Barrieren und kulturelle Vorbehalte hinzu, droht eine Abkapselung.

...und die Verklärung der eigenen Heimat.

Ich bin am Bodensee groß geworden und halte das bis heute für die schönste Landschaft der Welt. Man hat eine starke emotionale Bindung zum Ort, in dem man groß geworden ist. Das kann auch eine Plattenbausiedlung im Osten Berlins sein. Es prägt einen ein Leben lang, auch wenn man negative Erfahrungen loswerden will. Die Sehnsucht nach dem Ursprungsort trägt jeder in sich, auch wenn er es nicht immer zulässt. Heimat ist ein perfektes Erinnerungssystem, es ereilt einen immer wieder.

Kann Heimat nicht auch einfach dort sein, wo es mir gut geht?

Es gibt unterschiedliche Menschentypen. Unterscheiden lassen sich die sogenannten Somewheres von den Anywheres. Die meisten Menschen leben in kleinen Einheiten auf dem Land - das sind die Somewheres. Sie sind in ihrer Umgebung geblieben und verfolgen keinen individuellen Lebensstil wie die Anywheres. Wir müssen Heimat von Wahlheimat oder Zuhause unterscheiden.

Wie kann Mallorca zur echten Wahlheimat werden?

Das hängt sehr stark von der Persön­lichkeitsstruktur ab, ob jemand eher rückwärts gewandt ist oder nach vorne schaut. Manch einer wird versuchen, seine Umgebung auf Mallorca so auszugestalten, dass sie mit den Bildern harmoniert, die er im Kopf hat. Wer dagegen in der Lage ist, Prägungen auszublenden und die neuen Eindrücke in sein Leben zu integrieren, kann sich ganz neue Wahlheimaten auf Mallorca aufbauen.