Ich war schon immer lieber auf zwei als auf vier Rädern unterwegs. Mein erstes Fahrrad hatte keine Stützräder - ich dafür jede Menge blauer Flecken. Zu meiner Freundin aus dem übernächsten Nachbardorf bin ich lieber stundenlang mit dem BMX-Rad gestrampelt, anstatt den Bus zu nehmen. Und selbst wenn man als Jugendlicher beim Freihändigfahren auf dem Rennrad mit weit ausgestreckten Armen über den Lenker geflogen ist und sich ein blutiges Kinn geholt hat, dann war das keine negative Erfahrung. Man hat nur den „Adler" gemacht. Kurzum, auf zwei Rädern erfuhr ich, was Freiheit bedeutet: Immer etwas Wind um die Nase, ja, aber Freiheit kann auch anstrengend sein und verdammt wehtun, wenn man auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird. Aber dann steht man ja wieder auf - wenn man es denn noch kann. Seitdem ich als Zweiradfahrer auf Mallorca unterwegs bin, habe ich da so meine Zweifel.Eine verdammt riskante Angelegenheit

Besonders das Motorradfahren macht auf der Insel höllisch viel Spaß, ist aber auch eine verdammt riskante Angelegenheit. Der erste Verkehrstote im neuen Jahr 2018 auf den Balearen? Ein Motorradfahrer. Der 47-Jährige war um 5.30 Uhr auf der alten Landstraße nach Sineu unterwegs, verlor aus irgend einem Grund die Kontrolle über seine Maschine und raste in eine Verkehrsinsel. Er wird leider einer von vielen sein. 2017 gab es insgesamt 56 Verkehrstote auf den Balearen. 26 davon - also fast die Hälfte, waren auf einem Motorrad oder Moped unterwegs, zwei fuhren Fahrrad. Das balearische Verkehrsministerium nannte diese Zahl „erschreckend hoch". In Deutschland liegt die Zahl der getöteten Motorradfahrer um die 16 Prozent, Tendenz abnehmend.

Oft sind Alkohol und Drogen im Spiel

Warum das Motorradfahren auf Mallorca so gefährlich ist, darüber könnte man sicherlich ganze Studien anfertigen. Eine große Rolle würden darin die Begriffe „überhöhte Geschwindigkeit" oder „Selbstüberschätzung" spielen. Überproportional oft sind bei Verkehrsunfällen auf der Insel auch Alkohol oder Drogen im Spiel, sowohl auf Seiten der Auto- wie auch der Kradfahrer. Doch das ist noch nicht alles, was biken hier so mörderisch macht.

Ich fahre seit 1994, mal mehr, mal weniger häufig. Eines wurde mir von der ersten Fahrstunde an klar: Ein gewaltiger Unterschied zu Radfahrern ist, dass man als Motorradfahrer keine Scherze darüber macht, wenn man den „Adler" gemacht hat. Wer mit seiner Maschine stürzt, den erwarten Probleme. Plötzlich aufgehende Autotüren werden zu Katapulten, ein unglücklicher Schlenker auf nassen Straßenmarkierungen wird einen zu Boden reißen, Leitplanken auf der Autobahn können einen köpfen - da nützt auch der beste Helm nichts. Selbst ein einfacher Auffahrunfall in der Stadt kann Arme und Beine brechen, es gibt halt keine Knautschzone. Also fährt man vorausschauend und rechnet mit den Fehlern der anderen. Das funktioniert in der Regel ganz gut, nur ist das mit den Regeln, und wie man sie auslegt, so eine Sache.

Andere Länder, andere Regeln

Wer zum Bespiel einmal in Indien im Straßenverkehr unterwegs war, der weiß, dort gibt es keine wirkliche Straßenverkehrsordnung (StVO). Motorradfahren in Indien sei wie Media­tion, hat mir ein befreundeter­ Royal-Enfield-Fahrer einmal gesagt. Alles ist im Fluss, man ist ganz und gar im Hier und Jetzt - sonst landet man schnell im Jenseits. Auf einer Kreuzung in Goa regelt sich der Verkehr nach Dringlichkeit: Wer es besonders eilig hat, der fährt halt zuerst. Das Irre ist, das funktioniert ziemlich gut. In Deutschland unvorstellbar. Dort ist es eigentlich ein Wunder, dass die Menschen in den Fußgängerzonen nicht andauernd zusammenstoßen, schließlich sind diese Begegnungen in der Straßenverkehrsordnung nicht geregelt. Der Rest schon. Zum Beispiel bleibt man als Spaziergänger an einer roten Ampel stehen, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist. Dafür kassieren die Deutschen vielleicht ab und an verwunderte Blicke von Touristen, aber keinen Strafzettel. Noch unvorstellbarer in Deutschland ist es, bei einem rotem Signal eine Ampel zu überfahren. Der Führerschein steht auf dem Spiel. Wie bei beim Straßenspiel Monopoly heißt es dann schnell: Gehe nicht über Los, ziehe keine 4.000 Euro ein und ab ins Gefängnis. Und die Mallorquiner?

Die Sache mit den roten Ampeln

Klar, ein Bußgeld wird fällig, falls man über eine rote Ampel fährt. Aber hier scheint jeder eine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte im Handschuhfach liegen zu haben. In der Praxis heißt das, auf den Balearen fährt man bei der roten Ampel schon los, wenn das Fußgängerleucht­signal aufgehört hat, grün zu blinken. Und apropos Blinken. Die Richtungsanzeige im Straßenverkehr ist eine On-Off-Beziehung, über die nach Gefühlslage entschieden wird. Das Gleiche scheint für die ­Zebrastreifen zu gelten, die auf Radfahrwegen gemalt im Gegensatz zu denen auf den Straßen eigentlich keine Bedeutung haben.

Mantra: Ärgere dich nicht

Das Problem dabei ist, es gibt zwar festgezurrte Regeln, sie werden aber eher nach dem Zufalls­prinzip eingehalten. Nicht sehr verlässlich, wenn man ohnehin schon zur Risikogruppe im Straßenverkehr gehört. Damit ich nicht eines Tages Teil einer traurigen Statistik werde, versuche ich als Deutscher in Spanien ein bisschen indisch zu fahren. Mein Mantra lautet: Ärgere dich nicht. Auf der Autobahn versuche ich immer, möglichst viel Abstand zum Vordermann einzuhalten. Was passiert? Garantiert wird jemand die Lücke nutzen, um auf einmal zwei Spuren auf einmal zu wechseln, um doch noch kurz vor Palma nach Manacor abzubiegen. Mantra: Ärgere dich nicht. Ein anderer wird den Sicherheitsabstand als Einladung einsehen, um dich möglichst langsam zu überholen und seine Fahrt direkt vor deiner Nase fortzusetzen. Mantra: Ärgere dich nicht. Meine Hand am Gashebel bewegt sich mit indischer Gelassenheit, mein Fuß auf der Bremse tritt unbarmherzig gemäß der deutschen StVO. So bleibt mein Kopf da, wo er hingehört: auf den Schultern.