Mateu Morro Marcé sitzt auf der Terrasse der Bar Sa Font an der Plaça Hostal in Santa Maria del Camí und nippt an einem Milchkaffee. Er zeigt auf die Straßenseite gegenüber und erklärt mit einem leicht feierlichen Unterton, wer dort früher alles zugange war: „In dem Haus dort schräg rechts fertigten Arbeiter früher sogenannte barrals, also Korbbehälter für Anislikör- und Weinflaschen", sagt der 61-Jährige. „Daneben gab es eine kleine Fabrik, in der Pilze und Drosselfleisch abgefüllt wurde." Weiter hinten existierte lange Zeit ein Betrieb zur Herstellung von Textilien. Und am auch heute noch zu bewundernden Brunnen vor dem Celler Sa Sini konnten sich die Leute ab 1932 mit einer Siemens-Pumpe ihr Wasser holen.

Mateu Morro Mercé weiß, wovon er redet. Er ist so eine Art Gedächtnis des Ortes. Von 1990 bis 2001 war er Bürgermeister, er kennt hier fast jeden Einheimischen. Am Tisch vor dem Restaurant Sa Font kommt er aus dem Händeschütteln kaum heraus. Vom Jahr 2000 bis 2003 war der in der Balearen-Universität ausgebildete Historiker sogar balearischer Landwirtschaftsminister für die linksnationalistische Partei PSM.

Die Tankstelle ist geblieben

Heute ist an der Plaça Hostal von handwerklicher Emsigkeit so gut wie nichts mehr zu sehen. Banken, ein Supermarkt und vor allem Bars und Restaurants prägen das Bild. Dienstleistungen und Urlauber statt hämmernde und flechtende Arbeiter. „Auch die Mineralwasserfabrik und die vielen kleinen Baubetriebe gibt es schon lange nicht mehr", sagt Mateu Morro. Ein Hauch von anno dazumal weht nur noch an der nur aus zwei Zapfsäulen bestehenden Tankstelle über den Platz: „Das ist ein Überbleibsel, war aber in den 20er- und 30er-Jahren der allerletzte Schrei im Ort, die jungen Männer posierten davor."

Mateu Morro hat über Jahre alles gesammelt, was ihm zur Geschichte des mittlerweile bei Deutschen sehr beliebten Ortes untergekommen ist. Daraus hat er ein Buch gemacht, das gerade erschienen ist: „Aferrats a la terra. Història d'una societat pagesa Santa Maria del Camí, 1890-1936. " (Der Erde verbunden. ­Geschichte einer bäuerlichen Gesellschaft, Santa Maria del Camí, 1890-1936). Auf 436 Seiten wertet Morro seine Quellen und Statistiken aus sowie die über 80 Gespräche mit Zeitzeugen, die er über die Jahre hinweg interviewte. Weitere 132 Seiten dieser Wirtschafts- und Sozialgeschichte sind historischen Bildern gewidmet, die auch jene Leser in ihren Bann ziehen dürften, die des Katalanischen nicht mächtig sind.

In dem gerade mal 15 Kilometer von Palma entfernten Ort, in dem noch bis vor einigen Jahren die roten Pebre-Bord-­Paprikaschoten zum Trocknen an den Hausfassaden hingen, setzte gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein behutsamer wirtschaftlicher und sozialer Wandel ein. Technische Neuerungen wie die Elektrizität hielten Einzug. Handwerk und Handel florierten. Dank einer besseren Gesundheitsversorgung sank die Kindersterblichkeit und stieg die Lebenserwartung. Weniger Bürger als früher verließen die Gemeinde, um in der Ferne ihr Glück suchen.

Auch die Familienstruktur änderte sich: Zum Beispiel wurden weniger Ehen arrangiert, um den sozialen Status zu erhalten oder ein Absinken in die Armut zu verhindern. Schwindelig ob der Veränderungen musste dabei keinem werden: Santa Maria blieb ein Bauern­dorf, in dem die Elite der Grundbesitzer weiterhin die politischen Zügel in der Hand behielt und die Arbeiterbewegung wenig zu melden hatte.

Nachhaltig ohne Traktor

Auch die Mechanisierung der Landwirtschaft kam nur langsam voran. „Dampftraktoren gab es zwar schon Ende des 19. Jahrhunderts, aber erst gegen 1960 setzte sich auf der Insel der Motor­traktor als Ersatz für den Esel durch", sagt Morro. Im Vergleich zum heutigen industriellen Ackerbau handelte es sich um eine nachhaltige Bewirtschaftung: „Nichts ging verloren", sagt Mateu Morro. „Wenn Arbeiter etwa von einem Baum Äste absägten, schmissen sie diese nicht weg, sondern übergaben sie Bäckern, die mit ihnen in ihren Öfen das Brot erhitzten."

Autos konnten sich nur die wirklich Reichen - in der Regel die Besitzer von possessions (Landgütern) - leisten. Noch im Jahr 1932 gab es in Santa Maria gerade mal 26 Pkw vorwiegend der Marken Citroën und Ford, zwei Motorräder, vier Lkw, dafür aber nicht weniger als 392 Fahrräder. Der Fahrrad-Boom hatte 1916 eingesetzt, als erstmals günstige Zweiräder angeboten wurden. Viele nutzten sie, um zur Arbeit nach Palma zu fahren und sich so die hohen Kosten von Zug oder Bus zu sparen.

Das Radfahren war zugleich Sport: Schon in den 20er-Jahren baute man drei Rennbahnen. Manche Fahrer trainierten darauf so fleißig, dass sie an großen Rennen teilnehmen konnten. In Santa Maria erinnern sich Ältere noch immer an Antoni Gelabert, der bei der Tour de France dabei war und im Jahr 1956 mit nur 35 Jahren starb. Dessen Vorbild war das ebenfalls in Santa Maria geborene Rad-Ass Andreu Canals, der in den 30er-Jahren international erfolgreich war.

Ansonsten beschränkte sich die Unterhaltung weitgehend auf die sonntäglichen Spaziergänge auf dem Passeig de Santa Maria zwischen den beiden Kirchen des Dorfes. „Zwar gab es in den 20er- und 30er-Jahren schon Radios, aber nur wenige in Santa Maria konnten sie sich leisten", weiß Mateu Morro.

Der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) sowie die bleiernen Jahre der frühen Franco-Diktatur unterbrachen den sozialen Fortschritt. „In den 40er-Jahren lebten auf Mallorca viele Menschen am oder unter dem Existenzminimum", sagt Mateu Morro. Das habe auch daran gelegen, dass man im Zeichen der von Regime proklamierten Autarkie viele Produkte nicht mehr wie bis dahin für gutes Geld in andere europäische Staaten habe exportieren können.

Trugschluss Tourismus

Mit dem Beginn des Massen­tourismus in den 60er-Jahren stieg der Lebensstandard wieder. Diesen Wohlstand nur mit den Zuständen in der Franco-Diktatur zu vergleichen, verleite zu dem Trugschluss, dass allein das Geschäft mit den Urlaubern Mallorca in die Moderne geführt habe, sagt Morro. „Doch das stimmt so nicht. Wie ich in meinen Buch zeige, hatte der Wandel zum Besseren schon lange vor dem Bürgerkrieg eingesetzt."

In den Zeiten der Spanischen Republik vor dem Militäraufstand sei Mallorca zwar kein Paradies auf Erden gewesen, aber die Menschen hätten besser gelebt als danach. Das Pro-Kopf-Einkommen sei auf den Balearen das dritthöchste in Spanien gewesen, die Menschen hätten sich zudem viel besser ernährt als in den ersten Jahren der Diktatur, als es in Spanien viele Jahre nur Lebensmittelkarten gab. Und mit den Löhnen seien sie ohnehin erheblich besser ausgekommen. Habe es in Zeiten der Republik kaum Kinderarbeit gegeben, so sei diese nach dem Sieg der von Franco angeführten Aufständischen wieder verstärkt vorgekommen.

Bei alledem hütet sich Morro davor, die Vergangenheit zu verklären. „Das Leben war Anfang des 20. Jahrhunderts viel schwieriger als heute, und Veränderung gehört einfach dazu", sagt er. So gesehen findet er es auch nicht schlimm, dass sich in Santa Maria immer mehr Ausländer aus Nord- oder Zentraleuropa ansiedeln. Für ihn als Linkspolitiker sei das Gegeneinander ausspielen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen ohnehin kein Thema. „Es sind Zuzügler, die mit Sicherheit nie Probleme machen werden", davon ist er überzeugt. Sie seien in der Regel gutwillig, das fördere das Zusammenleben.

Mateu Morro, das Gedächtnis von Santa María, blickt in die Sonne und nippt weiter an seinem Milchkaffee auf der Terrasse der Bar Sa Font. Es dauert nicht lange, da schüttelt ihm wieder ein Bürger die Hand.

Mateu Morro Marcé, „Aferrats a la terra. Història d'una societat pagesa", Lleonard Muntaner Editor, 568 S., 45 Euro.