Noch immer treten María Dolores Sanz Tränen in die Augen, wenn sie von ihrem Francisco erzählt. „50 Jahre waren wir verheiratet. 50 Jahre, wir waren alles fürei­nander", sagt sie. Gerahmte Fotos von den beiden stehen auf einem Eiche-rustikal-Regal im Flur. Auf manchen sieht man Francisco die Krankheit bereits an. „Zwölf Jahre lang hat er gelitten, der Arme, dann hat es ihn dahingerafft", sagt Sanz, die alle nur „Loli" nennen. Vier Jahre ist das nun her. Zuletzt musste sie ihn im Rollstuhl schieben. Sie sei so froh, dass sie damals schon in diesem Häuschen mit den ebenerdigen Schlafzimmern und dem angrenzenden Garten lebten, und nicht in einer Wohnung im Stadtzentrum von Palma de Mallorca, sagt sie. So froh. „Auch wenn mir das wohl kaum jemand glaubt. Denn eigentlich ist die Situation hier unzumutbar."

Loli Sanz' Haus liegt neben Ikea. Nicht in der Nähe, sondern direkt neben dem schwedischen Möbelriesen - nein, eigentlich inmitten der Ikea-Areale: Links neben ihrem zweistöckigen Häuschen ragt eine große Werkshalle empor, höchstens 25 Zentimeter von ihrer Hauswand entfernt. Hier wird an defekten Billy-Regalen und Poäng-Sesseln gefeilt, gesägt und gehämmert, Lastwagen fahren ein und aus. Rechts neben ihrem Haus hat Ikea ein Grundstück zu einer inoffiziellen Müllhalde umgewandelt. Verpackungsabfälle und alte Baumaterialien liegen achtlos auf dem schlammigen Boden. „Disculpen las molestias" (Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten) steht auf einem Schild mit Ikea-Logo. Es liegt neben Abfallresten, rostet vor sich hin. Und hinter dem Haus? Da ragen gleich zwei der emblematischen blauen Klötze in die Höhe, deren gelbe Lettern die Kunden schon von der Autobahn aus anlocken. Die Via Cintura liegt direkt vor Loli Sanz' Haus, nur eine schmale Straße und die Böschung trennen sie davon. „Wegen der Autobahn wollte mein Francisco das Haus damals nicht kaufen", erzählt die 76-Jährige. Doch selbst ist die Frau! Geld hatte sie durch mehrjährige Arbeit in der Schweiz zusammengespart. „Da habe ich zu ihm gesagt: 'Ich kaufe das Haus trotzdem, hier ist es so schön. Wenn du weiterhin mit mir zusammenwohnen willst, dann musst du mitkommen.'" ­Natürlich kam er mit.

Und warum auch nicht? Abgesehen vom gleichmäßigen Autobahnlärm („den höre ich schon gar nicht mehr") sei die Wohnsiedlung Son Molines damals ruhig und zentrumsnah zugleich gewesen: mehrere kleine Häuschen, ein paar Windmühlen und Wiesen.

Niemals hätten Loli Sanz und ihr Francisco damals, beim Hauskauf vor fast 26 Jahren, gedacht, dass es das Möbelhaus sein werde, das ihnen das Leben schwermacht. „Sie eröffneten Ikea in etwa zur gleichen Zeit, als wir einzogen", erinnert sich Sanz. Damals allerdings mehrere Hundert Meter entfernt, mit fast halb so kleinen Ausstellungsräumen und eher als Versuchsprojekt - wer wusste schon, ob die schwedische Kette den mallorquinischen Eigenheiten gewachsen war?

Sie war es, ist es bis heute, das wird Sanz jedes Mal bewusst, wenn sie ihr Auto aus der Garage holen möchte. Die geparkten Autos der Ikea-Mitarbeiter versperren ihr die Ausfahrt, die gelbe Verbotslinie wird grundsätzlich ignoriert. „Aber sie anzuschwärzen, bringe ich nicht übers Herz, die Armen mit ihrem knappen Gehalt."

Wenn Sanz in ihr Gärtchen hinter dem Haus tritt, bessert sich ihre Stimmung merklich. Begeisterung schwingt mit, wenn sie die lange Liste der Obst- und Gemüsesorten aufzählt, die sie hier anpflanzt. „Aber die Abgase der Klima­anlage der Lagerhalle nebenan, die machen meinen Obstbäumen im Sommer zu schaffen", sagt sie.

Geld habe ihr Ikea bereits mehrmals angeboten. Viel Geld. Um ihr das kleine Grundstück abzukaufen und sich lückenlos ausbreiten zu können. „Mein Nachbar von rechts akzeptierte damals. Jetzt laufen auf dem Müllgrundstück die Ratten über die Firmen­abfälle", sagt Sanz. Zwei, drei, vier, fünf Millionen Euro könne man ihr bieten - verkaufen würde sie trotzdem nicht. „Die kriegen mein Haus nicht, auch nicht nach meinem Tod", sagt sie bestimmt. Kinder hat die 76-Jährige zwar nicht, dafür aber schon konkrete Pläne für ihr Ableben. „Ich werde das Haus einem Orden vererben, damit sie ein Kinderheim errichten können. Hauptsache, Ikea geht leer aus."

Im Rathaus von Palma kennt man Loli Sanz bereits, immer wieder ruft sie an, beschwert sich wegen fehlenden Parkverbotsschildern, verlassenen Autos, Müll oder Lärm. „Ja, genau, ich bin es wieder. Ja, ich hatte schon einmal angerufen", sagt sie in den Hörer ihres Schnurtelefons und hebt bedeutungsschwer die Augenbrauen. „Es ist immer dasselbe. Sie sagen, sie wollen helfen, tun aber nichts", brummt sie, als sie aufgelegt hat und zu ihren Echtholz-Sesseln zurückgeht. Einmal, vor anderthalb Jahren, sei der Bürgermeister da gewesen. Damals hatte sie mit der Handvoll anderer verbleibender Nachbarn Unterschriften gesammelt. „Danach haben sie meine Straße zur Einbahnstraße gemacht. Aber das war's auch schon."

Auch Miguel nahm an der Unterschriftenaktion teil. Sein Haus liegt schräg links hinter Loli Sanz' Grundstück. Von ihrer Dachterrasse aus kann sie zu ihm und seiner Frau herüberwinken. Jetzt steht Miguel an den Rahmen seiner Haustür gelehnt und zieht energisch an seiner Zigarette. Die Straße direkt vor ihm hat jeder schon einmal befahren, der seit dem Ikea-Umbau im Oktober 2016 im Möbelhaus eingekauft hat. Sie ist die einzige Ausfahrt vom Parkplatz und führt auch zu dem neu errichteten Abhollager. Miguels Heim ist das einzige Wohnhaus, das dazwischen liegt.

30 Jahre sei es her, dass er das Haus mit seiner Familie erstanden habe. Damals hatte er Blick auf die Tramuntana am Horizont. Heute schaut er auf die riesige blaue Ikea-Wand direkt gegenüber. „Sie haben mit den Jahren immer mehr Grundstücke erworben. Und vor etwa 2,5 Jahren begann dann der Bau dieses Klotzes", sagt er und deutet auf das neue Ausstellungsgebäude. Er fühle sich eingekesselt, abgeschieden. Von 10 Uhr morgens bis 22 Uhr abends bilden die Kunden Autoschlangen vor seinem Haus, rasseln mit den Einkaufswagen über den Asphalt. „Vorher und nachher kommen die Lastwagen, werden die Container geleert, gehen die Mitarbeiter in ihre kleinen Container-Büros direkt neben unserem Haus", sagt er und deutet auf das Nachbargrundstück. Auch dort habe vorher ein Wohnhaus gestanden. Jetzt sind hier provisorische

Verwaltungsunterkünfte.

„Klar könnten wir unser Haus verkaufen", sagt Miguel. An Ikea - andere Käufer würden sich kaum finden. „Aber es ist ja nicht nur ein Haus, es sind auch 30 Jahre Lebenserinnerungen." Auf einmal klingt der Mittfünfziger ähnlich trotzig wie Loli Sanz. „Und warum sollen wir weg? Wir waren zuerst hier!" Nachgeben, das wäre wie aufgeben.

Immer wieder mal beschwere er sich bei Ikea, damit wenigstens grundlegende Regelungen etwa in puncto Lärmschutz eingehalten werden. „Wir haben da schon einen extra Ansprechpartner." Seine Frau, eine Lehrerin, macht ihrer Wut auf andere Weise Luft. „Vergonya, Cavallers, Vergonya" (Schande, Ritter, Schande), hat sie an ihre eigene Hauswand gesprüht - in Anlehnung an den bekannten Ausspruch des Mallorca-Eroberers Jaume I. Ein anderer Spruch spielt mit spanischen Ikea-Slogans. „Mi hogar maltratado, mi república golpeada, mi sueño roto" (Mein Zuhause misshandelt, meine Republik attackiert, mein Traum in Scherben). „Es war unser Traum, hier unser Leben zu verbringen, in Ruhe und ungestört", sagt Miguel.

Wie Ikea auf die Beschwerden reagiere? Mit Rabattaktionen für die Anwohner zum Beispiel? Auf MZ-Anfrage äußert sich der Konzern nicht. Sonderangebote würden in Son Molines ohnehin kaum Abnehmer finden. „Artikel von Ikea?", ruft Miguel aus. Bitterkeit schwingt in seiner Stimme mit. „Den Laden betrete ich nicht. Nicht einmal, um eine Glühbirne zu kaufen." Der Kampf sei mühsam, in gewisser Weise sei es aussichtslos, ihn zu gewinnen. Wohnst du noch, oder lebst du schon? Die Frage kann Miguel leicht beantworten. „Unsere Lebensqualität haben wir definitiv verloren."

Drüben in ihrem schummrigen Wohnzimmer rückt Loli Sanz ihre Echtholz-Sessel zurecht. Später wollen Freunde zum Essen vorbeikommen. Auch ihr Bruder Alfonso hat sich bereits im oberen Geschoss einquartiert, wie so oft, seit Francisco nicht mehr ist. Gesellschaft tut Sanz gut, für Unordnung ist da kein Platz. Genauso wenig wie für schwedische Möbel im Baukastenprinzip. Außen mag die Ikea-Invasion voranschreiten. Das Innere ihres Hauses aber bleibt Ikea-freie Zone.