Dort, wo vor genau 100 Jahren der Mallorquiner Josep Puncernau seine Schneiderei La Filadora eröffnete - mitten in Palma de Mallorcas zentraler Einkaufsstraße Carrer Sant Miquel -, verkauft heute ein Ableger der Kette Bershka Modeschmuck und Kleidung aus Massenproduktion. Aber nein, La Filadora reiht sich nicht ein in die mittlerweile lange Liste von Traditionsgeschäften in Palma, die großen Konzernen und astronomischen Mieten zum Opfer gefallen sind. La Filadora besteht noch immer. Und eigentlich, sagen die Betreiber, können sie sich nicht einmal über miese Zeiten beschweren.

Schwer zu sagen, wie viele Stoffe übereinandergestapelt sind in dem großen Ladenlokal an der Carrer dels Foners, nahe dem Carrer Manacor, wo La Filadora heute untergebracht ist. Inhaberin Victoria Sánchez weiß es selbst nicht, will nicht einmal eine Schätzung abgeben. Baumwolle, Neopren, Leinen, Seide, Polyester, Jeans, Jute, Frottee, Filz, Tüll, flauschige Stoffe mit Leopardenmuster, mallorquinische Polsterstoffe mit Zungenmuster, bunte Kinderdecken, klassische Vorhangstoffe, fließende Tücher mit funkelnden Pailletten, Stickereien, glitzernde Fasern, feine Spitze - stundenlang könnte man an den Regalen mit aufgerollten Stoffbahnen vorbeigehen, ohne am Ende alle Besonderheiten erfasst zu haben. „Und das ist nicht alles, was wir im Angebot haben", sagt Sánchez und deutet auf zahlreiche Kataloge, die sich in einem Schränkchen neben der Kasse stapeln. „Bestellen können wir fast alles."

Nur eines sei nicht im Sortiment: Billigware aus Asien. Dass sie vor allem auf Stoffhersteller von Mallorca und aus Spanien setzt, habe weniger mit Idealismus als mit unternehmerischen Erwägungen zu tun, sagt Victoria Sánchez und gibt ein Beispiel: „Der pistaziengrüne Stoff dort vorn", sagt sie, „aus dem macht ein Skate-Verein hier seit ­vielen ­Jahren seine Trikots." Jedes Jahr müssten neue angefertigt werden, für den Nachwuchs. „Also muss es auch immer genau der gleiche Stoff und genau die gleiche Farbe sein." Und das könne man nur garantieren, wenn man auf die Lieferanten setzt, die man schon lange kennt. Bei denen man um ihre jeweiligen Vorzüge und Macken weiß, auf die Verlass ist.

Pedro „Pere" Soler kennt sie alle. Er lernte zwischen den Stoffbahnen von La Filadora laufen, sowohl für viele Kunden als auch für die Stoffhersteller ist der 40-Jährige fast schon Teil des Inventars. Es war sein Großvater, der in den 30er-Jahren gemeinsam mit einer befreundeten Familie den Laden vom Gründer Josep Puncernau kaufte. Alte Schwarz-Weiß-Fotos auf dem Tresen erzählen von jener Zeit. „Fräulein, überzeugen Sie sich" steht auf einem Werbeplakat aus dem Jahr 1929, unter dem Firmennamen ist groß gedruckt: „Casa de Confianza". Haus des Vertrauens.

Noch immer gilt dieser Slogan, noch immer setzen die Betreiber auf Qualität statt günstige Preise, und noch immer steht persönliche Beratung vor Massenabfertigung. Dabei hat sich seitdem vieles getan. Maßgeschneidertes war mit dem Aufkommen der großen Modeketten immer weniger gefragt, die Schneiderei entwickelte sich immer mehr zum Stoffgeschäft. „Natürlich hat auch La Filadora in den Jahren der Wirtschaftskrise einen Einbruch gespürt", so Pere Soler. In den vergangenen Jahren sei es aber auch wieder deutlich bergauf gegangen. „Ich habe das Gefühl, viele Leute hatten während ihrer Arbeitslosigkeit Zeit und sind so wieder auf das Schneidern gekommen", vermutet Victoria Sánchez.

Als Pere Soler 1995 offiziell als Verkäufer einstieg, führte die zweite Generation - sein Vater und zwei Partner - das Geschäft. 2012 kam dann der große Knall: Die Inhaberfamilien zerstritten sich, das Unternehmen ging in Konkurs. Erst übernahm es der Geschäftsmann Miguel Ángel Martínez und zog mit dem Geschäft in den Carrer Vilanova. Als er erkrankte, kam Victoria Sánchez zum Zug und installierte La Filadora an ihrem heutigen Platz. Pere Soler zog als Verkäufer mit, blieb der Fels in der Brandung.

Sánchez weint dem Top-Standort in der Fußgängerzone Sant Miquel nicht hinterher, auf Laufkundschaft sei man ohnehin nicht angewiesen. Denn bei all den Besitzerwechseln blieben nicht nur Pere Soler und die Lieferanten erhalten, sondern auch viele Kunden. Und die kommen das ganze Jahr über.

„Es beginnt im Januar mit den Feierlichkeiten zu Sant Antoni", sagt Sánchez. Dann kämen die Menschen aus den Dörfern, um Stoffe für Teufelsanzüge und Trachten zu kaufen. Vor Karneval sei ohnehin die Hölle los, ebenso vor Ostern, denn die Bruderschaften, die die Prozessionen organisieren, sind ebenfalls Stammkunden. Mit dem Frühling kämen dann die Privatkunden, auf der Suche nach Stoffen für Erstkommunionsfeiern, Hochzeiten, Sommerfeste, Gartenmöbel oder Polsterbezüge. Im Mai und Juni bestellen die Schulen Filzabzeichen für Ehrungen zum Schuljahresabschluss, im Herbst steigt die Nachfrage nach Stoffen für Halloweenkostüme, in der Vorweihnachtszeit sind weihnachtliche Muster bei Bastelgruppen gefragt. „Und dann kommen die Stoffe für die Silvester-Garderobe. Wir hören eigentlich nie auf", sagt Sánchez. Zumal die Rathäuser zwischendurch Stoffe für ihre Flaggen, das Militär für seine Stoffabzeichen und Palmas Teatro Principal für seine Kostüme benötige. „Man glaubt gar nicht, dass für so viele Dinge Stoff benötigt wird." Konkurrenz gibt es nur noch von zwei weiteren Traditions-Betrieben: Teixits Es Tren und Ribes & Casals.

Entsprechend optimistisch blickt Sánchez in die Zukunft. Schon jetzt arbeitet sie mit Schneidern zusammen und bietet Maßanfertigungen an. „Wir würden aber gern bald wieder eine eigene Schneiderwerkstatt integrieren", sagt sie. Zurück zu den Wurzeln quasi.