Mallorca hat viele schöne Seiten, aber mir gefällt der Osten der Insel am besten. Artà, Son Servera, Canyamel, sogar Manacor und Cala Millor - das sind meine Favoriten. Wenn Palma und die beschaulichen Orte des bergigen Westens die schönen Schwestern sind, dann ist der Nordosten, der sogenannte Llevant, das verkannte Stiefkind. Aber nur auf den ersten Blick. Denn bei näherer Betrachtung erkennt man, dass der Osten Charakter hat.

Fangen wir mit Artà und Son Servera an, zwei uralten Städtchen, besiedelt schon in vorchristlicher Zeit, im Mittelalter bereits als Ortschaften erwähnt. Sie sorgen heute für Erdung und zeitlose Gelassenheit zwischen den Touristenorten des östlichen Küstenstreifens. Artà mit der Almudaina-Festung und der Wallfahrtskirche Sant Salvador auf dem Stadthügel ist die attraktivere der beiden. Das merkt man schon an der Zahl der Besucher in der Fußgängerzone und an den Geschäften für Mallorca-Salz und Mandelgebäck - letztere stets ein untrügliches Zeichen für eine erfolgreiche Platzierung auf den Routen des mallorquinischen Fremdenverkehrs. In Artà kann man gut seine Zeit verbringen. Es gibt einen Wochen­markt (dienstags), Geschäfte für Kunsthand­werk, Mode und ein niedliches französisches Café mit einem kiesbestreuten Innenhof (Carrer de Ciutat, 18).

In der Unvollendeten

Son Servera hingegen, obwohl auch nicht unansehnlich mit seinen Gassen, Steinhäusern und dem Blick auf Bucht und Strand von Cala Millor, bleibt für die meisten Besucher eine Durchfahrtsstation. Golfspieler kennen die umliegenden Plätze. Wahr­zeichen der Stadt ist die unvollendete Església Nova, die Neue Kirche, nach einem Entwurf des Gaudí-Schülers Joan Rubió. Sie wirkt in ihrem neogotischen Stil wie aus England oder Frankreich transplantiert - und irgendjemand hat vergessen, noch die restlichen Bauteile einzufliegen. Tatsächlich scheiterte der Fertigbau aber an Geldmangel. Heute wird das rudimentäre Kirchenschiff für Freiluft­konzerte genutzt. In Son Servera gibt es auch das eine oder andere Lokal, in das man einkehren kann, aber grundsätzlich hat man immer ein bisschen das Gefühl, in einen vom Tourismus nur am Rande gestreiften mallorquinischen Ort geraten zu sein.

Ähnlich verhält es sich mit Manacor, dem urbanen Zentrum des Ostens. Manacor ist mit rund 41.000 Einwohnern die drittgrößte Gemeinde nach Palma (406.000 Einwohner) und Calvià (49.000). Die Stadt kann sich rühmen, mit dem 80 Meter hohen Glockenturm der ebenfalls aus Geldmangel noch nicht vollendeten Pfarrkirche Nostra Senyora dels Dolors das höchste Gebäude der Insel zu besitzen. Manacor ist im Kommen, heißt es seit einigen Jahren. Das sagen nicht nur Immobilienmakler, die sonst schon überall alles verkauft oder vermietet haben. Als Grund für die wachsende Attraktivität wird der berühmteste Sohn der Stadt genannt: Rafa Nadal mit seinem Tenniszentrum und dem Rafa-Nadal-Museum. Man kann Spaniens erfolgreichsten Tennisspieler mit solchen Unternehmungen zwar nicht unbedingt Bescheidenheit und Zurückhaltung attestieren. Durch die Ortswahl - Manacor und nicht etwa Palma - beweist er aber Lokal­patriotismus.

Bürgermeister Jesus Christus

Gleichwohl begann Ende Juni eine Fremdenführerin ihren Rundgang mit dem schönen Satz: Manacors größter Vorteil sei immer noch, „dass es hier kaum Touristen gibt". Ihren Hauptverdienst erwirtschaftet die Frau als Tour Guide in Palma, in Manacor käme sie kaum über die Runden. Dabei hat die alte Arabergründung entgegen ihrem rauen Ruf ansehnliche Seiten zu bieten. Man muss nur die Augen aufhalten, dann erblickt man Jugendstilbrunnen, prächtige Herrenhäuser und die bereits erwähnte Pfarrkirche Nostra Senyora dels Dolors. Apropos Bescheidenheit: In der Pfarrkirche erfährt man, dass Jesus Christus zum ­Ehrenbürgermeister ­Manacors ­ernannt worden ist. Welch großzügiges Entgegenkommen der Stadt für den Heiland! Und erst umgekehrt: Auf welch ehrenvolles Ahnenregister kann sich ein jeder Nachfolger im Bürgermeisteramt heute berufen! Selbst der Papst in Rom ist lediglich der Nachfolger des Apostels Petrus.

Ein Geheimtipp sind die Kirche und der Klosterhof Sant Vicenç Ferrer, der kostenlos besichtigt werden kann. Das Stadtmuseum und das Institució Publica Antoni M. Alcover sind ebenfalls einen Abstecher wert. Alcover war eine Art mallorquinischer Bruder Grimm, der Volksmärchen sammelte, die katalanische Sprache erforschte und ein allumfassendes Wörterbuch vorlegte. Nie gehört von dem Mann? Da sieht man, welche Entdeckungen der Osten bereithält!

Wo Einheimische urlauben

Ist Manacor im Vergleich zu Palma - oder auch zu Sollér, Valldemossa und Alcúdia - ein Hort der Ruhe, so gilt dies umso mehr im Juli und August. Dann verlassen die Einheimischen die Stadt und suchen Zuflucht vor der Hitze in ihren Sommerresidenzen an der Küste. In Porto Cristo etwa, dem alten Hafen von Manacor, oder in S'Illot, dessen Südteil ebenfalls verwaltungstechnisch zu Manacor gehört. Das ahnt sicher nicht jeder, der sich an der Platja de S'Illot in der Sonne aalt: Er oder sie liegt auf dem feinkörnigen Sand der Gemeinde Manacor. Der Nordteil des Örtchens wiederum gehört zu Sant Llorenç des Cardassar. Die Grenze verläuft am Torrent de Ca n'Amer, jenem in den Sommermonaten etwas tristen Gewässer, über den die Holzbrücke von S'Illot führt.

Bleiben wir an der Küste, denn sie ist ja gar nicht so schrecklich verbaut wie oft behauptet. Sa Coma ist ein Ferienort aus der Retorte. Vor wenigen Jahrzehnten noch praktisch hotelfreie Zone, reihen sich hier heute die Drei- und Vier-Sterne-Häuser aneinander, auch ein Fünf-Sterne-Haus gibt es. Der 900 Meter lange Sandstrand ist jedoch wirklich schön, und auch die Promenade zwischen Punta de n'Amer und der Landzunge vor S'Illot, wo die Glasbodenschiffe ablegen, ist ­eine der hübschesten der Insel.

Man muss nur weiter nördlich fahren, zur Costa dels Pins, nach Canyamel, zur Cala Agulla und Cala Torta, um weitere ­fantastisch schöne Strände und Buchten zu finden. Gibt es eine vielseitigere, abwechslungsreichere Region als Mallorcas Osten? Man kann baden, man kann wandern, man kann Fahrrad fahren, zum Beispiel auf der nicht fertig gebauten Eisenbahnstrecke nach Artà, man kann Golf spielen. In Canyamel und Porto Cristo herrscht eine andere Stimmung als an der Playa de Palma oder in Port d'Andratx. Die Atmosphäre ist entspannt und unprätentiös. Hier kann jeder sein Inselleben so gestalten wie er oder sie will und muss nicht das machen, was die Mode vorgibt.

Luxus und Schlager

Ein bisschen Luxus und Genuss kann man sich auch gönnen. Der Osten hat eine der interessantesten Restaurantszenen der Insel. Allen voran mit Tomeu Caldentey, der sich in seinem Restaurant Bou mitten in einer Ferienanlage in Sa Coma einen Michelin-Stern erkochte. Leider hat er nach fast zwei Jahrzehnten das Bou gerade geschlossen, er will mit einem anderen Konzept in Kürze neu starten. Auf einem wunderschönen Landgasthof bei Capdepera ist Andreu Genestra tätig, ein Bruder im Geiste von Tomeu Caldentey, denn auch bei ihm kommen vor allem regionale Speisen auf den Tisch, ebenfalls auf Sterneküchenniveau.

Und was ist mit Cala Millor? Ist das nicht der Ballermann des Ostens? Ja, der Beschallungsmix aus deutschem Schlager und Pop-Evergreens, der abends aus den Strandbars dringt, könnte so auch 60 Kilometer entfernt in S'Arenal aufgelegt werden. Die Gästeschar ist eher leger unterwegs, die Bebauung nicht besonders ansehnlich. Die Strandpromenade, obwohl schon einiges getan wurde, bräuchte dringend ein einheitliches Planungskonzept. Aber der Strand ist breit und familientauglich, das Naturschutzgebiet Punta de n'Amer ein Kleinod, und schon im Nachbarort Cala Bona, fünf Minuten mit dem Auto entfernt, kann man sehr nett in bodenständigen Lokalen direkt am Hafen sitzen. Das ist doch das Gute am abwechslungsreichen Osten: Findet man an dem einen Ort nicht das, was man sucht, fährt man eben einfach in den nächsten.

Der Reisejournalist Frank Rumpf („Ready for Boarding", „In der Haifischbar brennt noch Licht") erholt sich seit vielen Jahren auf Mallorca von seinen Touren durch Asien und Nordamerika.