Seit fünf Jahren ist der italienische Schriftsteller Simone Perotti auf dem Mittelmeer unterwegs. Jüngst lag sein 18 Meter langes und 40 Jahre altes Segelboot „Progetto Mediterranea" im Hafen von Palma. Jeden Samstag legt Perotti woanders an. Dann ist Reinigungstag. Während die Crew die Matratzen ausklopft und die Böden schrubbt, zündet sich der 52-jährige Italiener eine Zigarette an und setzt sich auf den Boden des Anlegestegs im Real Club Náutico. 1.600 Seemeilen hat er seit Mai zurückgelegt.

Woher kommen Sie, wohin geht's weiter?

Angefangen haben wir 2013 in Mesolongi in Griechenland. Dieses Jahr haben wir Trapani auf Sizilien, Sardinien, Korsika, Südfrankreich, Barcelona und Menorca besucht. Morgen geht es weiter nach Ibiza, Cartagena, Lagos, Lissabon. Dort wollen wir im September sein, dann ist Schluss für dieses Jahr. Kommendes Frühjahr geht es dann zur letzten Etappe des Progetto Mediterranea, Schluss ist in Genua. Dann haben wir 29 Länder besucht und 20.000 Seemeilen zurückgelegt, das ist so viel wie eine

Erdumsegelung.

Was fühlen Sie an Bord?

Ich stamme aus einer Familie von Seeleuten, die ja immer eine gemischte Beziehung zum Meer haben: Sehnsucht und Angst zugleich. Das prägt auch mich: An Bord denke ich an den nächsten Landgang und an Land will ich bald wieder ablegen. Man ist gewissermaßen dauernd im falschen Lebensraum. Dann liebe ich die Langsamkeit des Segelns. Man nähert sich dem Ort, den man seit Langem ansteuert, hat Erwartungen und Gefühle, kommt endlich an.

Warum haben Sie 2013 abgelegt?

Das war die Entscheidung meines Lebens. Ich habe 20 Jahre lang in Rom als PR-Manager und Lobbyist gearbeitet, für große Firmen, Verlage, Banken. Als ich 41 war, hatte ich das Gefühl, die Zeit läuft mir davon: Sie ist ja die einzige nicht erneuerbare Quelle des Universums. Dann brach ich mit allem, nach einem langen inneren Prozess. Ich wusste, ich wollte schreiben und segeln. Ich schreibe seit meinem neunten Lebensjahr, jeden Tag. Und dann das Meer, das ich immer nur einen Monat im Jahr oder am Wochenende erleben konnte. Wenn ich nicht schreibe, fühle ich mich wie tot. Wenn ich nicht segle, bin ich traurig.

Sie suchen auf der Reise also sich selbst?

Nicht nur. Ich stellte mir die Frage: Wozu habe ich meine Zeit zurückerobert? Mir war klar, ich wollte das Mittelmeer, mein Zuhause kennenlernen. Es war für mich ein Haus mit verschlossenen Türen. Es ist ja riesig. Hier leben 450 Millionen Menschen, drei Kontinente, drei Religionen, diverse Ethnien, die seit Jahrtausenden Handel treiben, Kriege führen, Frieden schließen. Manche sprechen vom siebten Kontinent. Ich habe die Vision, dass dieser Kontinent vereint werden muss.

Was würde sich in einem vereinten Mittelmeer ändern?

Wir hätten zum Beispiel viel weniger Flüchtlingsprobleme, es handelte sich dann in den meisten Fällen um interne Zirkulation von Bürgern. Wir könnten Erdogan unter Druck setzen, damit er die Bürgerrechte achtet. Israel und Palästina würden gezwungen, Frieden zu schließen. Es gäbe einfach gemeinsame Interessen. Das wäre keine Alternative zu Europa, sondern eine Ergänzung. Das ist eine natürliche Entwicklung. Ich habe mit einem Libanesen, einem Tunesier oder einem Griechen doch viel mehr gemeinsam als mit einem Dänen.

Wie wird Ihre Idee in den Mittelmeerländern aufgenommen?

Ich hatte einige wichtige Intellektuelle an Bord, die Israelis Abraham Yehoshua und David Grossmann, die Griechen Petros Markaris und Vassily Vassilikos. Sie fanden den Gedanken gut, aber keiner teilte die Vision. Das ist schlimm, denn sie verpassen den historischen Moment. Der Mittelmeerraum war so lange Geburtsort großer Ideen, philosophischer Gedanken! Dann haben die Nordeuropäer und Nordamerikaner das Steuer übernommen. Die Italiener sind ein typisches Beispiel, aber auch die Südfranzosen, mit ihrem Okzitanisch oder die Katalanen: Sie verrennen sich in Lokalismen, denken an ihr kleines Land, anstatt an den Kontinent zu denken. Wo sind sie, die Intellektuellen des Mittelmeers?

Wird das Mittelmeer von Nordeuropa oder Nordamerika kolonialisiert?

Ja. Wir sprechen heute alle Englisch. Früher gab es eine Mischsprache im Mittelmeer, Sabir. Eine Sprache verändert die Menschen, wir denken wie die Leute in Boston oder Los Angeles. Obwohl ich offen bin für Ideen von überall, denn die sogenannte kulturelle Kontamination ist ja ein Charakteristikum des Mittelmeerraums. Aber wir übernehmen zu viel vom Norden, wir kolonialisieren uns sozusagen selbst.

Geben Sie mir Beispiele dieser Kolonialisierung?

Sie brauchen sich nur umzusehen im Hafen von Palma. Er sieht genauso aus wie alle anderen. Ich sehe Seerettungsschiffe, Kreuzfahrtschiffe, große Frachter. 90 Prozent des Warenverkehrs finden auf dem Meer statt. Da drüben sind alte Frachter, die seit 40 Jahren fahren und noch immer nicht ausrangiert werden, die ihren Motor nie abstellen, obwohl sie schlechten Diesel verbrennen und einen enormen Schaden an der Natur anrichten. Und ich sehe die großen Yachten der Reichen. Für sie soll das Meer eine Komfortzone sein. Sie lassen den Motor laufen, damit ihre tiefgefrorenen Garnelen an Bord nicht auftauen. Das ist falsch. Auf Garnelen sollte man sich als Segler tagelang freuen, vom Fischmarkt beim nächsten Landgang träumen.

Hat sich Ihre Vorstellung vom Mittelmeer verändert?

Ja. Ich bin losgefahren mit der Vorstellung, dass das Mittelmeer eine Mischung der großen Länder ist, Frankreich, Italien, Spanien ? Ich hatte mich getäuscht. Diese Länder haben das Mittelmeer verraten. Die Bewohner sehen lieber „Baywatch" als dass sie die „Odyssee" lesen. Dann dachte ich, das Mittelmeer seien die großen Häfen, Piräus, Beirut, Neapel, Marseille, Barcelona. Dabei liegen dort Schiffe mit Containern aus China, Holland, Italien. Der Welthandel hat die Häfen globalisiert, sie sind dominiert vom Lärm der großen Frachter, wie man hier hören kann.

Wo haben Sie es dann gefunden?

Da, wo ich es nicht erwartet hätte: auf den Inseln, und zwar auf den kleinen Inseln. Sie haben mir das heute noch mögliche Mittelmeer gezeigt, in der Ägäis, vor Süditalien, vor Kroatien, im Schwarzen Meer. Deswegen habe ich den Atlas geschrieben: nicht, weil ich das echte Mittelmeer vorstellen wollte. Ich wollte die Orte zeigen, wo ich etwas Besonderes gespürt habe. Orte, die die Globalisierung vergessen hat, an denen sie vorbeigezogen ist. Dort habe ich mich zu Hause gefühlt.