„Weihnachten ohne Sibylle ist für einen Mallorquiner unvollständig", erklärt der Musikwissenschaftler Francesc Vicens, der zwei Bücher über diese Tradition geschrieben hat. Nichtinsulaner werden sich zunächst schwertun, diesen Brauch überhaupt zu verstehen. Er besteht darin, dass bei der Christmesse ein Mädchen mit einem Schwert in den Händen vor den Altar tritt und mit gregorianischem Gesang vom Jüngsten Gericht erzählt, vom Antichrist, der über die Welt herrschen und alle in den Tod jagen wird, die ihm nicht dienen, von Meeren, Quellen, Flüssen, die in Flammen aufgehen, von „schreienden Fischen" und von einer Sonne, die sich verdunkelt.

Sehr weihnachtlich klingt das nicht. Die Horrorvision führe direkt ins Jahr 999, erklärt Vicens. Damals wurde die Menschheit angesichts der bevorstehenden Zeitenwende von kollektiver Panik ergriffen, man wähnte sich dem Jüngsten Gericht nahe. Die Kirchen waren damals nicht nur Räume der Andacht, man führte auch Theaterstücke zu mythischen Themen auf. Eines war die Prozession der Propheten: Einer nach dem anderen traten die Weissager auf und gaben ihre Prophezeiungen zum Besten. Am populärsten war die Sibylle von Erythrai, sie stellte den Abschluss und Höhepunkt der Propheten-Show dar. Bei ihr stand das Publikum Höllenängste durch, sie war der Star dieses Vorläufers des Horrorkinos. Das Schwert, das heutige Sibylle-Sängerinnen in den Händen halten, ist alles, was von der damaligen Inszenierung übrig geblieben ist.

Der Kirche wurde es zu viel des Spektakels. Sie verbot die Aufführungen, unter anderem, weil es dabei zuweilen unbotmäßig hoch herging. Um das Volk, das sich schon damals gerne fürchtete, zu besänftigen, wurde der beliebteste Part, nämlich die Sibylle, in die Liturgie integriert, konkret in die Messen an wichtigen Feiertagen, später nur noch in die Weihnachtsmesse.

In der, meinte der Klerus, waren die apokalyptischen Visionen gut aufgehoben, denn nun erschien die Geburt eines Erlösers als umso erfreulicher. Damit das Lied nicht gar so furchterregend ausfiel, wurde dem Originaltext ein Vers angefügt, der sich auf die Geburt des Jesuskindes bezieht. Dazu kam, dass bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) der liturgische Raum für Frauen tabu war und die Sibylle von Männern dargestellt werden musste. Die Apokalypse dürfte angesichts eines mit Perücke und Frauenkleid aufgedonnerten Dorfpfarrers einiges von ihrem Schrecken verloren haben.

Nicht nur deshalb setzte der Vatikan alles daran, ­diese im Grunde heidnische Tradition zu tilgen. Auf Mallorca hin­gegen, wohin die Tradition 1229 mit den ­katalanischen Eroberern gekommen war, krallten sich die Gläubigen ebenso wie auf Sardinien hartnäckig am „Cant de la ­Sibil.la" fest. Die Insellage hat wohl dazu beigetragen, dass Mallorca den päpstlichen Willen ignorieren konnte.

2011 erklärte die UNESCO den Sibyllengesang zum Weltkulturerbe. „Dieser Brauch hat bestimmt keinen Schutz nötig", meinte damals Vicens. „Denn er hat die Jahrhunderte und alle kirchlichen Verbote überstanden."