Der Drache kommt aus dem Eingang des Bischofssitzes geflogen. Oder besser gesagt: Die Flügel schlagend, schwebt das grüne Fantasiewesen lautlos in der Luft vor dem herrschaftlichen Gebäude neben Palmas Kathedrale. Wir nähern uns Schritt für Schritt, strecken die Hände nach dem Tier aus. Die Illusion hält an - zumindest bis ungefähr einen Meter vor dem Türbogen. Jetzt wirkt es, als schwebe der Drache in einem in der Mauer eingelassenen Kasten. Eine leichte Kopfdrehung, und das Fabelwesen verschwindet aus dem Blickfeld.

Zuletzt wurde der Drac de Na Coca im 17. Jahrhundert gesichtet, als er im Umfeld der Kathedrale aus den Kloaken aufstieg und Kinder im Viertel verschwinden ließ - bis der damalige Statthalter von Alcúdia, Bartomeu Còc, mit seinem Schwert dem Spuk ein Ende machte. So zumindest besagt es die Legende, an die heute ein ausgestopftes Krokodil im Diözesanmuseum neben der Kathedrale in Palma erinnert.

Dass der Drache nun wieder fliegt, dafür sorgt der Reiseveranstalter Tui. Der Drac de Na Coca existiert als Datenprojektion und ist eine Art Versuchskaninchen für den Einsatz von Augmented Reality bei Ausflügen: Infos, Fotos und Animationen sollen den Urlaubern mit speziellen Brillen vor die Augen projiziert werden. „Individualisierung ist ein immer breiterer Trend", erklärt Unternehmenssprecher Michael Röll beim Ortstermin vor der Kathedrale, bei dem die MZ die stereoskopische Augmented-Reality-Brille ausprobiert. Viele Urlauber wollten nicht mehr nur einem Guide mit Regenschirm hinterhertrotten, sondern Highlights am Urlaubsziel individuell erleben - sei es auf eigene Faust oder in der Gruppe, mit der Möglichkeit, zusätzliche Infos und Erlebnisse über die Datenbrille abzurufen.

Das Gerät, das Chris Carmichael, Leiter Innova­tion von Tui Destination Experiences, zum Ausprobieren bereit hält, ist überraschend filigran und hat nichts mit den monströsen Aufsätzen zu tun, die man aus Berichten über virtuelle Realität kennt. Star Trek-Fans assoziieren womöglich den Visor des blinden Raumschiff-Enterprise-Ingenieurs Geordi LaForge. Das Gerät hat etwas von einer extravaganten Sonnenbrille, bei der die verdunkelten Gläser so weit vorne eingelassen sind, dass diese auch über der eigenen Brille aufgesetzt werden kann. Ein Kabel führt zu einer Art Mousepad, einem schwarzen Kästchen, das sich mit dem Daumen bedienen lässt und am Band um den Hals getragen werden kann.

Wer die Brille aufsetzt, sieht erst mal die normale Umgebung. Vor dieser wird jetzt ein Hauptmenü mit drei Funktionen eingeblendet, das sich mit dem Mousepad ansteuern lässt. Es geht los mit „Explore": Beim Umhergehen und Kopfdrehen tauchen im Sichtfeld Buttons auf, die die Kathedrale oder den Parc de la Mar markieren. Sie lassen sich anklicken, daraufhin ploppen Textfelder mit Hintergrundinfos zur Sehenswürdigkeit auf. Bei Funktion zwei, dem „Dragon Place", kommt zur GPS-Funktion die 3-D-Animation hinzu - der flügelschlagende Drache. Bei Funktion drei hat dummerweise das Bistum von Mallorca den Tui-Entwicklern einen Strich durch die Rechnung gemacht: Sie programmierten die Objekterkennung anhand der Ausstellung im Diözesanmuseum - und das ist derzeit wegen Sanierungsarbeiten geschlossen. Aber den Effekt simuliert Carmichael auf dem Tablet: Wenn etwa das im Museum ausgestellte Gemälde von Pere Terrencs ins Blickfeld des Trägers der Datenbrille gerät, erscheint links davon eine Kurzbiografie und rechts davon ein weiteres Gemälde des mallorquinischen Malers.

Es sind simple Beispiele, das Bild ruckelt beim Bewegen des Kopfes, die Projektionsfläche auf den Brillengläsern besteht aus kleineren Rechtecken, die nicht das Sichtfeld ausfüllen. Und trotzdem lässt sich das Potenzial erahnen. Man denkt an frühe Windows-Versionen oder die ersten klobigen Han­dys, die noch nicht viel konnten, aber dennoch den Grundstein für neue Kommunikationsformen legten. Der Reiz der Testbrille besteht darin, nicht in eine künstliche Parallelwelt abzutauchen, sondern die echte Umgebung bei Bedarf virtuell zu erweitern - zumal man sich an das Tragen des leichten Gestells durchaus gewöhnt. Ein technikaffiner Raumschiff-Enterprise-Fan würde wohl sagen: Die Brille könnte das Zeug zu einer Art mobilem Holodeck haben.

„Die Technologie steckt noch in den Kinderschuhen", meint Röll. Fragt man Carmichael, wo es technisch am meisten hakt, kommt er immer wieder auf die Prozessoren zu sprechen - mit ihrer Stärke steht und fällt das Erlebnis der erweiterten Realität. Zunächst stehen weitere Tests mit den derzeit rund 600 Euro teuren Geräten an, dann die konkrete Produktentwicklung. Deswegen gibt es auch noch kein Datum, ab wann man die Brillen beim Mallorca-Urlaub dazubuchen kann.

Oder anderswo in der Welt. Denn die Konzepte, die in der Tui-Innovationsabteilung im Parcbit nördlich von Palma entwickelt werden, finden weltweit Einsatz. Das gilt für virtuelle Vorab-Besuche im Hotel per vorab auf Mallorca getester Datenbrille, für den „Smart Bus", der beim Airport-Transfer dank GPS-Technik zum jeweiligen Ort passende Infos auf dem Monitor zeigt, und jetzt vielleicht auch für die Sightseeing-Touren mit erweiterter Realität. „Hier auf Mallorca habe ich den Vorteil, dass ich Produkte stets mit allen Zielgruppen testen kann", so Carmichael. Wobei die Urlauber die neuen Brillen bislang noch nicht selbst ausprobieren durften. Bei seinen Tests vor der Kathedrale sei er bislang auch noch von keinem Touristen angesprochen worden. Aber sie konnten ja auch noch nichts vom flügelschlagenden Drachen ahnen.