Zugegeben: Sie sind hübsch anzuschauen, die Steinmännchen - jene Auftürmungen von kleineren und größeren Steinen, die sich an den Naturstränden von Mallorca immer weiter ausbreiten. Jaume Adrover von der Umweltvereinigung Terraferida kann ihnen dennoch wenig Schönes abgewinnen. Er spricht von einer „Plage", die vor allem rund um das Cap de ses Salines, mittlerweile aber auch an der Nordostküste zwischen Cala Mesquida und Cap des Freu sowie im Naturschutzgebiet Parc de Llevant überhandnimmt. Mit dem ursprünglichen Zweck der Steinmännchen, Wanderern etwa im Gebirge den Weg zu markieren, hat das nichts mehr zu tun.

Margalida Ramis vom Naturschutzbund Gob schlägt ebenfalls Alarm: Die caramulls, wie die Steinmännchen auf Mallorquinisch heißen, seien alles andere als harmlos. „Die Steine an der Küste bieten Insekten, Eidechsen und Pflanzen - wie Strandflieder oder Bleiwurzgewächsen - in dem ohnehin schwierigen Lebensraum mit hohem Salzgehalt und starkem Wind Schutz. Je mehr Steine umgeschichtet werden, desto mehr wird das empfindliche Ökosystem aus dem Gleichgewicht gebracht", sagt sie. Auch die balearische Landesregierung startete bereits mehrmals Aufrufe, die Steine doch bitte an ihrem angestammten Platz liegen zu lassen. Genutzt hat das bisher nichts. Was steckt hinter dem merkwürdigen Trend?

Steinestapeln ist seit jeher ein spirituelles Ritual: In Norwegen und Island dient der Bau der Steinmännchen traditionell dem Schutz vor Trollen, im buddhistisch geprägten Volksglauben in Tibet bitten die Menschen die guten Geister, sich in den Steinmännchen einzunisten. In der westlichen Esoterik hat sich das Motiv des gestapelten Steinhaufens inmitten von unberührter Natur zum Symbol für innerer Ruhe, Balance und Kraft entwickelt. „Dieses Tun schenkt tiefe Befriedigung, wirkt meditativ und inspirierend. Und wir schaffen uns damit auch gleich einen starken Kraftplatz. Beim Halten der Hand über dem Steinmännchen weist uns ein feines Kribbeln darauf hin, dass sich hier etwas tut", versichert Philippe Elsener im Naturmagazin naturzyt.ch.

Der Soziologe und Psychologe Oliver König glaubt trotzdem nicht, dass der Steinmännchen-Trend durchweg einen spirituellen Hintergrund hat - erst recht nicht bei den in Massen auftauchenden Männchen an touristisch beliebten Orten wie Mallorca. „Es ist vielmehr ein Ritualverhalten in unserer spirituell weitgehend entleerten Welt", sagt er und vergleicht das Steinmännchenbauen mit dem Bäume-Ritzen. „Man will so zeigen: Ich war hier. Allerdings bleibt man, anders, als wenn man seinen Namen in einen Stamm ritzt, beim Steinmännchenbauen anonym. Es ist also eher eine symbolische Kollektivtat. Man tut es, weil andere es tun und ordnet sich dem Ritual unter."

Seit rund 35 Jahren ist Oliver König als Experte und Trainer in der Deutschen Gesellschaft für Gruppen- und Organisationsdynamik tätig und analysiert, wie sich Menschen im Zusammenspiel mit anderen verhalten. „Beim Steinmännchenbauen können wir nicht von klassischer Gruppendynamik sprechen, da das Nachahmen in der Regel nicht in der Gruppe erfolgt." Vielmehr sei es möglich, dass sich Wanderer, die einen Strand voller Steinmännchen entdecken, von dem Vorgefundenen anstecken lassen, um sich unterbewusst einer imaginären Großgruppe zugehörig zu fühlen. „Oft dürften auch spielerische Beweggründe dazu führen, wie beim Sandburgenbauen", sagt er. Ein bewusster Eingriff in das Ökosystem dürfte in den seltensten Fällen vorliegen.

Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch Systemwissenschaftler und Nachhaltigkeitsforscher Thomas Brudermann von der Universität Graz. Auch an österreichischen Seen, die touristisch frequentiert sind, hat er die Steinmännchen bereits beobachtet. Seiner Einschätzung nach lässt sich das Phänomen unter dem Oberbegriff „soziale Normen" erklären. Brudermann verweist auf evolutionsbiologische Hintergründe. „Als Einzelkämpfer hätte der Mensch früher nicht überlebt, er ist immer auf Kooperation angewiesen, und diese funktioniert nur, wenn man sich an soziale Normen hält." Entweder durch direkte Beobachtung oder - wie im Falle der Steinmännchen - weil die Umwelt es ihm kommuniziert. „Anhand des Umfelds sieht man, wie vor Ort die Normen sind und welche Tabus dort gebrochen werden. Das ist wie bei der 'Broken-Window-Theory' der US-Forscher Wilson und Kelling. Ein eingeschlagenes Fenster lädt Vandalen ein, weitere zu zerstören. Ganz nach dem Motto: andere tun es ja auch."

„Von einst spirituellen oder praktischen Hintergründen hat sich das Steinestapeln vermutlich in den allermeisten Fällen längst entkoppelt", sagt Thomas Brudermann. Das passiere oft bei Massen­phänomenen. „Es gibt keinen tieferen Sinn, den Menschen geht es darum, dazuzugehören und vielleicht auch, besonders zu sein, in dem sie ein herausragend großes oder schönes Steinmännchen bauen." Dieses Bestreben werde durch die sozialen Medien weiter potenziert. „Letztlich geht es oft nur ums Fotomotiv bei Instagram, auf dem man zeigen kann: Guckt mal, auch ich war im Urlaub an einem schönen Ort und auch ich habe dort ein Steinmännchen gebaut", so Brudermann.

Tatsächlich sind Instagram, Facebook, Twitter und Co voll von idyllischen Steinmännchen-Bildern. Vor allem der Schwede Pontus Jansson erreicht seit einigen Jahren auf Youtube mit wahren Steinmännchenwundern Zehntausende von Nutzern. Deshalb glaubt Thomas Brudermann auch nicht, dass es allein damit getan ist, Warnschilder aufzustellen, so, wie es in Menorca bereits geschehen ist. „Helfen könnten wohl nur strikte Kontrollen und Ahndung", vermutet er. Und vielleicht die Einsicht, dass man schöne Orte am besten so hinterlassen sollte, wie man sie vorgefunden hat.