Pater Damià Estelrich war außer sich über die Zustände auf Cabrera. Im Jahr 1809 schrieb er reihenweise Briefe an die obersten Militär­behörden, um etwas gegen die Missstände auf der provisorischen Gefangeneninsel zu unternehmen. Mehr als 11.000 französische Kriegsgefangene der Truppen Napoleons waren auf dem Archipel im Süden von Mallorca interniert, nachdem ein Gefangenenaustausch im Spanischen Unabhängigkeitskrieg gescheitert war. Die Umstände, unter denen sie dort jahrelang hausten, hätten den Verantwortlichen heute eine Anklage wegen Verletzung der Menschenrechte eingebracht. Der Sonne ausgesetzt, karge und immer wieder ausbleibende Essensrationen, mieses Trinkwasser, Skorbut und Unterernährung, angebliche Fälle von Kannibalismus - das Leben auf Cabrera war die Hölle.

Den Französisch sprechenden Priester aus Porreres, der für die Gefangenen abgestellt war, umtrieb jedoch ein anderes Problem: die Anwesenheit von Frauen auf der Insel. Er erwirkte einen Befehl, dass sich alle Frauen vor ihm zu versammeln hatten, um anhand ihrer Papiere zu überprüfen, „bei wem es sich um legitime Ehefrauen, Witwen oder Alleinstehende handelt", wie er am 20. Oktober schrieb. Um die Moral wieder herzustellen, dürfe keine Frau ohne Trauschein auf der Insel bleiben. Jedoch: „Einige flüchteten die Hügel hinauf, andere taten so, als hätten sie nichts gehört. Nur eine meldete sich beim Kapitän und bestieg das Schiff. Leider lief es auf Grund, die Frau wurde böse und kehrte an Land zurück", so Estelrich.

Die historischen Dokumente, die die Universitätsdozentin Isabelle Bes ausgewertet und jetzt in einem Roman verarbeitet hat, zeigen vor allem zweierlei. Zum einen das Schicksal von wohl bis zu drei Dutzend Frauen, die bei der ohnehin weitgehend verdrängten Tragödie von Cabrera bislang kaum wahrgenommen wurden. Zum anderen aber auch den Blick auf diese Frauen von „zweifelhafter Moral", die in den vorwiegend von Männern verfassten Schriften über Cabrera nicht selten auf Liebesabenteuer und physische Attribute reduziert werden. Dem wolle sie mit ihrem Roman die weibliche Perspektive entgegensetzen, sagt Bes, die das Buch unter dem Künstlernamen Elisa Sebbel veröffentlicht hat. Die Protagonistin des bislang nur auf Französisch erschienenen Buches „La prisonnière de la mer" (Die Gefangene des Meeres, Fayard, 2019) ist eine Kantinenwirtin, die auf Cabrera vergewaltigt wird, den Schutz eines Leutnants sucht und sich in einen Neuankömmling verliebt. Die spanische Übersetzung ist in Vorbereitung, die deutsche noch in Planung.

Bes ist Philologin und keine Historikerin, das Buch ist Roman und nicht Geschichtsbuch. Und doch erweitert es den historischen Blick. Es soll den vergessenen Frauen auf Cabrera erstmals eine eigene Stimme geben. Die Romanfiguren tragen die historisch überlieferten Namen der Frauen. Es handelte sich zum einen um die Gattinnen von Offizieren sowie um cantineras. Das waren offiziell autorisierte Wirtinnen, die wie die Soldaten einen Eid schwören mussten. Ihre Rolle im Krieg bestand darin, die Soldaten mit Essen, Knöpfen oder auch Schnaps zu versorgen, „den teilten sie sogar im Kampf aus, sie gingen mit einem Fässchen und einem Löffel von Soldat zu Soldat", erklärt Bes.

Auf Cabrera schlugen sie ihr Lager im Palais Royal auf, wie die zentralen Behausungen ironisch genannt wurden. „Die meisten Frauen schenkten Wein, Schnaps und Café aus", schreibt ein Offizier. Ein anderer berichtet von einer Witwe, die auf der Überfahrt Zwillinge zur Welt gebracht hatte und auf der Insel Kranke pflegte - mit einem „würdevollen und mutigen Verhalten", das seinesgleichen suchte. Anderen cantineras unter dem Regime Napoleons wird dagegen in der zeitgenössischen Literatur unterstellt, pragmatisch den Partner gewechselt zu haben, wenn dadurch der Dienstgrad stieg: „Einige nannten sich Baronin, andere Frau General, einige wachten des morgens gar als Gräfin auf."

Ein auf der Insel inhaftierter Kapitän, Charles de Frossard, porträtiert in seinen Briefen sechs dieser Frauen. Da wäre Maria, die wegen ihrer Leibesfülle und Hässlichkeit als Wäscherin endete. Da wäre ihre Nachbarin Jacquette mit ihren zahlreichen Liebesabenteuern. Da wäre eine weitere Maria, die ihren Gefreiten für einen Offizier verließ. Da wäre Denise, die von ihrem eifersüchtigen Mann misshandelt wurde. Da wäre die hübsche Angélique, die von Liebhaber zu Liebhaber wechselte und deren Hochzeit vereitelt wurde. Und da wäre eine verwitwete Polin, die es nicht zur cantinera brachte. „Sie war wohl nicht so geschickt beim Intrigieren wie die Französinnen."

Diese klischeebeladene Schilderung sollte möglicherweise die Ehre des französischen Soldaten retten und den Frauen die Schuld an den moralischen Zuständen auf der Insel geben, vermutet Bes. Die Frauen waren in vielen Fällen Besitztümer, die nicht aus freien Stücken die Prostitution wählten, sondern regelrecht verkauft wurden. „Sie endeten schnell in den Händen der Kapitalisten auf der Insel, die noch etwas Geld hatten, manche freiwillig, andere infolge von Vereinbarungen mit Ehemännern, die gegen Geld auf ihre Rechte verzichteten", beschrieb die Lage Soldat Louis Gille.

So wie inzwischen feststeht, dass auch einige Hundert deutsche Soldaten auf Cabrera interniert waren - sie hatten im multinationalen Heer Napoleons gekämpft -, so gibt es auch Belege für mindestens zwei deutsche Frauen auf der Insel: Cristiana, Frau des Unteroffiziers Carvet, und die verwitwete Maria, die von ihrem neuen Partner auf Cabrera misshandelt wurde und auf Vermittlung die Insel verlassen konnte.

Während Priester Estelrich erfolglos die Frauen von Cabrera vertreiben wollte, verließen die meisten schließlich freiwillig die Insel, als im Juli 1810 die Soldaten mit Offiziersgrad nach England überstellt wurden, dem damaligen Bündnispartner Spaniens. Die Spur der verbliebenen Frauen sowie derjenigen, die neu ankamen, liegt im Dunkel der Geschichte. Es dürfte ihnen angesichts der kargen und oft ausgebliebenen Rationen sehr schlecht gegangen sein. Von insgesamt wohl 11.800 Häftlingen überlebten bis Kriegsende 1814 gerade mal 3.500 bis 5.000. „Die Wirtinnen waren weit von der Figur einer Venus entfernt", schreibt ein Soldat Ende 1813, „sie erschienen uns im Allgemeinen wie umherirrende Schatten."