Mallorca war trockenen Fußes erreichbar, es gehörte zum Festland der Iberischen Halb­insel. Auch die anderen heutigen Mittelmeer­inseln waren auf einmal keine Inseln mehr, verbunden mit Europa: Sizilien war Teil von Süditalien; Korsika, Sardinien, Kreta und all die anderen heutigen Sehnsuchtsorte hatten ihren Sonderstatus eingebüßt, sie ragten als Hochplateaus aus felsiger Landschaft.

Vor sechs Millionen Jahren geschah Unfassbares: Das Mittelmeer verdunstete. Bald erstreckte sich eine karge Tiefebene, wo zuvor Wasser schwappte. Am Grund schimmerte eine grauweiße Salzwüste, in der einzelne Seen glitzerten. An Stränden, auf die zuvor die ­Wellen brachen, fiel die Küste 2.000 Meter steil ab. Tiefe Canyons durchschnitten die schroffen Hänge, in den Kerben stürzten Flüsse zu Tal. Auf Felsterrassen an den Flanken krallten sich Nadelbäume fest. Noch immer sind ­Wissenschaftler dabei, das Geschehen der ­geologischen Katastrophe zu rekonstruieren. Dass etwas Kolossales passiert sein musste, dämmerte ihnen aber bereits im 19. Jahrhundert: In Südfrankreich waren Arbeiter beim Bohren von Brunnen auf eine unterirdische Schlucht gestoßen, die mit Erde zugedeckt war. Weitere Bohrungen zeigten, dass der Graben sich wie ein Untergeschoss unter dem gesamten Rhône-Tal entlangzog. Der Fluss, so viel schien klar, musste sich einst tief in den Boden geschliffen haben. Der Pegel des Mittelmeers musste einst extrem niedrig gelegen ­haben. Ein befremdlicher Befund.

Er blieb ohne Erklärung liegen in den Schubladen von Universitäten. Erst in den 60er-Jahren holten Geologen ihn wieder hervor, nachdem am Grund des Mittelmeers eine weitere erstaunliche Entdeckung gemacht worden war: Bei der Erkundung des Bodens mittels Schallwellen zeichnete sich auf den Monitoren des Forschungsschiffes eine Linie ab: Etwa hundert Meter tief im Schlick wurden Schallwellen reflektiert. Die Linie war überall, sie verlief nahezu im gesamten Meeresgrund. Eine Schicht musste sich ozeanweit abgelagert haben. Was konnte das sein?

In den 70er-Jahre enthüllten Bohrungen, dass die Schicht aus Salz bestand. Forscher standen erneut vor einem Rätsel: Warum hatte sich das Salz gleichmäßig über den gesamten Grund verteilt? Die Analyse ergab, dass es sich wesentlich um Anhydrit handelte - ein Salz, das zurückbleibt, wenn Meerwasser verdunstet. Weitere Bohrungen lieferten die nächste Überraschung: In dem Salz erspähten die Forscher versteinerte Bakterienmatten, sogenannte Stromatolithen. Diese seit Urzeiten die Erde bevölkernden Wesen gedeihen im Flachwasser. Jetzt sprachen die Wissenschaftler aus, was kaum noch zu ignorieren war: Der Grund des Mittelmeers muss einst nahezu trockengefallen sein.

Sie holten die Aufzeichnungen der ­Bohrungen aus dem 19. Jahrhundert hervor, und sie passten zu neueren Erkundungen: Große Flüsse wie Nil und Rhône hatten bis zu 2.400 Meter tiefe Schneisen in die Küsten geschnitten. Eine Bohrung vor Sardinien brachte den finalen Beweis: Dort lagen im Meeresgrund große Mengen Kies. Es handelte sich um Schotter aus dem Schwemmfächer einer urzeitlichen Flussmündung. Wasser musste sich aus dem Fluss direkt auf den Meeresboden ­ergossen haben.

Die Sensation war vollkommen, als die ­Ergebnisse der Altersbestimmung des Salzes bekannt wurden, die verrieten, wann das ­Mittelmeer trockengefallen sein muss. Atome im Salz zerfallen in gleichbleibender Menge. Indem man die Menge der zerfallenen Teilchen mit der Menge der Ursprungsteilchen vergleicht, lässt sich das Alter der Substanz bestimmen. Das Ergebnis war eine riesige Überraschung: Das Salz hatte sich vor knapp sechs Millionen Jahren abgelagert, also in geologisch gesehen jüngster Vergangenheit, als bereits menschenartige Lebewesen durch Afrika streunten. Zu jener Zeit muss das Mittelmeer verdampft sein und das Salz hinterlassen ­haben, staunten die Wissenschaftler. Noch ­immer suchen Forscher nach der Ursache des Erdgeschichtsdramas. Der herrschenden Theorie zufolge, war die Verschiebung tektonischer Erdplatten der Auslöser: Die Straße von Gibraltar, jene 14 Kilometer schmale Meerenge zwischen Europa und Afrika, scheint sich geschlossen zu haben vor sechs Millionen Jahren. Durch die schmale Passage wird das Mittelmeer mit Wasser aus dem ­Atlantik versorgt, es ist der einzige natürliche Zugang zu einem anderen Ozean. Vor sechs Millionen Jahren hatte sich eine Erdplatte, der sogenannte Gibraltar-Bogen, gedreht - und ­dabei allmählich den Seeweg blockiert.

Die Mittelmeerregion war damals in den Sog der Alpenentstehung geraten: Die Afrikanische Erdplatte schiebt sich wie ein Sporn in die Europäische, wobei sich in der Knautschzone die Alpen türmen. Auch westlich und östlich verbiegen sich seither die Platten. Vor neun Millionen Jahren, so zeigen es geolo­gische Rekonstruktionen, begann sich ein knapp 200 Kilometer breiter Block entgegen dem Uhrzeigersinn in die Straße von Gibraltar zu drehen - bis die sich schließlich vor knapp sechs Millionen Jahren geschlossen hatte. Fortan fehlte der Zufluss von Ozeanwasser. Ohne den Nachschub verdunstete das isolierte Meer im warmen Klima unaufhaltsam.

Dass das Mittelmeer heute wieder da ist, verdankt sich der unter Europa abtauchenden Erdplatte: Sie zerrt den Grund des Mittelmeers unterhalb der Straße von Gibraltar mit in die Tiefe. Vor 5,3 Millionen Jahren hatte sich das Land so weit gesenkt, dass wieder Wasser vom Atlantik ins Mittelmeer strömte - gespeist von Wasserfällen lief es voll. Doch die Bewegung der Erdplatten geht unerbittlich weiter, Afrika und Europa nähern sich stetig an, wie die häufigen Erdbeben in der Region bezeugen. In ­einigen Jahrmillionen dürfte das Mittelmeer wieder trockenfallen, bis in der Knautschzone der Kontinentkollision sogar sein Meeresgrund zerquetscht werden wird. Dann wäre das Mittelmeer endgültig verschwunden.

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