Hierher verirrt sich kein noch so historisch interessierter Urlauber. Wer die Reste eines Fundaments sehen will, das früher wohl mal einen römischen Tempel trug, klopft beim Pförtner des Gebäudes Estudi General Lul·lià in Palmas Altstadt. Der öffnet dann eine Tür im Innenhof, die an Stromkästen vorbei ins Untergeschoss führt. Eine weitere Tür führt in einen Raum, der wie ein Betonsarkophag wirkt. Stein­blöcke liegen übereinander. Auf den zweiten Blick lassen sich das Fundament einer sieben Meter langen und gut einen Meter breiten Mauer, der Sockel einer Säule sowie die Einfassung eines Abwasserkanals erkennen. „Das ist kennzeichnend für die römische Bauweise", sagt Bartomeu Vallori und zeigt auf die Schichtung der Mauer: Die Marès-Blöcke sind versetzt und in Doppelreihen geschichtet.

Entdeckt wurden die Reste aus römischer Zeit beim Bau eines Hörsaals Ende der 60er- Jahre. Das ist typisch für die heute bekannten Überbleibsel des Palma romana: Sie tauchten meist beim Buddeln in Palmas Untergrund auf, einige erst bei Bauarbeiten in den vergangenen 20 Jahren. Erstmals zusammengetragen hat alle Funde nun Vallori in einem gut 300 Seiten dicken Buch. Das Projekt wirkt dabei ein bisschen wie ein Puzzle mit 10.000 Teilen, von denen heute nur noch eine Handvoll übrig ist. Der Archäologe hat die Teile identifiziert, verortet und Theorien für den verbliebenen ­Leerraum entwickelt. Wie groß war Palma wirklich? Hat es die Struktur der heutigen Stadt vorgegeben? Und wie war die damalige natürliche Umgebung?

Eine der wichtigsten Erkenntnisse: Das ­römische Palma, das „sehr wahrscheinlich" ­unter der heutigen, gleichnamigen Balearen-Hauptstadt lag, war mit einer bewohnten ­Fläche von wohl mehr als 20 Hektar deutlich größer als bislang angenommen und in etwa mit Pollentia zu vergleichen, der weitaus besser erhaltenen römischen Siedlung bei Alcúdia im Nordosten Mallorcas, die denselben Ver­waltungsstatus wie Palma genoss. Die Römer dürften die Ersten gewesen sein, die hier eine Siedlung gründeten - Zeugnisse aus talayo­tischer Zeit sind nicht bekannt. Das römische Palma ist somit die unterste Schicht der heu­tigen Stadt, auf der spätere Bewohner wie Mauren und Katalanen ihre Mauern hochzogen und sich dabei aus dem römischen Fundament wie auf einem Steinbruch bedienten - das Schicksal einer jeden historischen Stätte, die nicht verlassen wurde. Hinzu kommt, dass die römische Siedlung schon vor Ankunft der ­Mauren Anfang des 9. Jahrhunderts einen ­Niedergang erlebte und Schauplatz kriegerischer Zusammenstöße war. Zeugnisse aus dem Mittelalter gibt es in Palma an jeder Ecke, aus dem maurischen Madina Mayurqa zumindest einige - aber aus römischer Zeit?

Die Funde und Überlieferungen sind nicht nur rar gesät, sondern bedürfen auch der ­Interpretation. So wurde Palma zwar 123 vor Christus durch den Konsul Quintus Caecilius Metellus gegründet - das sagen die Schriften. Die ältesten archäologischen Zeugnisse stammen allerdings aus der Zeit 50 vor Christus. Womöglich wurde Palma - wie auch Pollentia - zunächst als militärischer Stützpunkt ­angelegt, um Küste und Territorium zu kontrollieren, und erst später besiedelt. Das würde auch zu den archäologischen Funden in ­Palmas Norden passen: Als dort vor gut zehn Jahren das Großklinikum Son Espases hoch­gezogen wurde, kamen bei den Bauarbeiten Reste eines römischen Militärlagers ans Licht.

Spuren der Festungsmauer

Archäologe Vallori steht an einem Gittertor im Carrer de l'Almudaina in Palmas Altstadt, unweit des markanten Rundbogens, der sich über die Gasse spannt. Der Wissenschaftler zeigt auf eine Mauer im Innenhof. Ein Zeugnis aus römischer Zeit? Nun ja, nur einige der verbauten Blöcke stammen aus der Epoche, genau genommen aus spätrömischer Zeit. Das Mauerwerk wurde offenbar immer wieder umgebaut und erweitert - auf wenigen Quadratmetern vermischen sich die Spuren gleich mehrerer Jahrhunderte. Der Innenhof ist einer der wenigen Orte, an denen Teile der ursprünglichen Befestigungsmauer rund um das Almudaina-Viertel frei zugänglich zu ­sehen sind. Die Umrundung galt früheren ­Wissenschaftlern als mutmaßliche Außengrenze der römischen Siedlung. Diese wäre dann nur sechs Hektar groß gewesen.

Doch diese Theorie verlor in den vergangenen 30 Jahren zunehmend an Schlagkraft. Denn bei Bauarbeiten in den 90er- und 2000er-Jahren fanden sich Fundstücke römischen ­Ursprungs auch außerhalb des Almudaina-Viertels, beispielsweise Reste einer Begräbnisstätte auf der heutigen Plaça del Coll, zwischen Via Sindicat und Rathausplatz. Vallori geht ­davon aus, dass nur ein Teil der Siedlung befestigt war, ähnlich wie in anderen römischen Niederlassungen der damaligen Zeit, und sich ein weiterer Teil der Siedlung außerhalb der erst später gebauten Festungsmauern befand. Die Außengrenzen der Siedlung markieren ­andere Orte: Begräbnisstätten oder auch ­Müllhalden, die außerhalb bewohnten Gebiets angelegt wurden. Gelegen haben könnte das Palma der Römerzeit demnach zwischen den heutigen Straßen Palau Reial im Westen und Pelleteria im Osten sowie der Plaça d'en Coll im Norden und dem Meer im Süden.

Die Archäologen kämpfen bei der genauen Verortung des römischen Palma mit einer weiteren Schwierigkeit. Angesichts einer Zeitspanne von mehreren Jahrhunderten ergibt sich kein statisches Bild, vielmehr dehnte sich die Stadt aus, vor allem in der Blütezeit im 2. Jahrhundert. Wo vorher Müllhalden waren, wurden später Wohnhäuser gebaut. „Für ­Palma ist bezeichnend, dass besiedelte Gebiete Gärten und Beeten Platz machten, später aber wieder urbanisiert wurden", so Vallori. So bezeugen Funde wie auch historische ­Karten, dass sich im Gebiet des Konvents ­Santa Clara, des Konvents Sant Francesc oder im Gerreria-Viertel im Mittelalter große Gartenanlagen befanden, die zuvor aber bebaut gewesen waren.

Ähnliches gilt auch für die Straßenzüge, fanden doch Archäologen mitten auf dem ­Carrer de l'Almudaina Spuren eines römischen Bodenbelags, der dem Innenraum eines Gebäudes zugeordnet wird. Und wo vorher Straßen verliefen, wurden später Häuser errichtet. Es sind Veränderungen, die sich über die Jahrhunderte fortsetzen und im 19. und 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichen sollten, beispielsweise mit dem Bau der Plaça Major am früheren Ort des Sitzes der Inqui­sition oder dem Abriss der Stadtmauern aus Mittelalter und Renaissancezeit.

Kein Stein auf dem anderen

Prägt die Stadtplanung der Römer dennoch in Grundzügen das heutige Palma? Um dies zu erforschen, hat Vallori komplizierte Berechnungen angestellt: Er nahm eine Karte des heutigen Straßennetzes und errechnete für die Verkehrswerte die geografische Ausrichtung in Grad. Diese Zahlen verglich er dann mit den Daten der wenigen Straßenzüge, die aus der Römerzeit überliefert sind. Ergebnis: Zwar stimmt die Orientierung einiger Straßenzüge im Bereich der heutigen Viertel ­Almudaina, Santa Eulàlia und Calatrava mit Abweichungen von weniger als zehn Grad überein, soweit sich dies auf Basis der wenigen Funde sagen lasse. Insgesamt aber sind die

Veränderungen beträchtlich, was angesichts der einschneidenden späteren Veränderungen nicht verwunderlich sei. Da kam es zu Überschwemmungen durch den Riera-Sturzbach, da wurden Häuser wieder aufgegeben oder zerstört, öffentliche Räume besiedelt und große Bauprojekte wie Klöster und Kathedrale in Angriff genommen.

So steht man also an der Ecke der Straßen Sant Roc und Deganat hinter La Seu und versucht sich vorzustellen, dass sich hier in etwa zu Zeiten der Römer das Forum befand, also das politische, administrative und religiöse ­Zentrum der Stadt mit seinen Tempeln und Verwaltungsgebäuden. Ins Bild passt da das Fundament eines mutmaßlichen Tempels unter dem Gebäude Estudi General Lul·lià nebenan. Im heutigen Museumsladen der Kathedrale sind außerdem Sockel zu sehen, die offenbar Statuen trugen, auch die Hand einer Bronze­statue wurde gefunden - ebenfalls Indizien für den Standort dieses damaligen Forums.

Ein Anker auf dem Borne?

Nicht nur Bebauung und Straßenzüge durchliefen eine Metamorphose, auch die umge­bende Landschaft. Um sich an die damalige ­natürliche Umgebung anzunähern, hat Vallori alle Standorte römischer Funde nicht nur in der Ebene, sondern auch in der Höhe verortet und mit diesen dreidimensionalen Markierungen am Computer die damalige Landschaft rekonstruiert. Beim Blick darauf fällt als Erstes eine Meeresmündung auf, wo heute der Borne-Boulevard verläuft - offenbar befand sich an dieser früheren Mündung des Riera-Sturzbachs, der in der Neuzeit verlegt werden sollte, eine Öffnung zum Meer. So jedenfalls wäre auch der römische Anker zu erklären, der im Jahr 1830 beim Bau des Brunnens auf der Plaça de la Tortuga am Ende des Borne entdeckt wurde. Heute ist er am Sitz von Mallorcas Handelskammer ausgestellt. Und auch die Reste einer Kaimauer aus islamischer Zeit in der Tiefgarage Antoni Maura ergeben so Sinn.

Während diese Fundstücke hinter eine Glasscheibe zu betrachten sind, bleiben andere Zeugnisse für Besucher unsichtbar. Für historisch besonders interessant hält Vallori etwa einen Steinbruch am Ort der heutigen Plaça Llorenç Villalonga am Parc de la Mar, der unter der Tiefgarage eines Wohngebäudes begraben ist, ähnlich wie Reste einer Lagerhalle und eines Friedhofs im selben Gebiet. Die 2.000 Jahre alten Steine haben eben einen schwierigen Stand in einer ohnehin von historischen Zeugnissen überbordenden Stadt.

Außer den verbleibenden Fragen und Unsicherheiten rund um das römische Palma warten auf Mallorca weitere Rätsel aus der damaligen Zeit auf ihre Lösung. So gab es laut Überlieferung neben Palma, Pollentia und der in der Umgebung von Pollença ver­orteten Siedlung Bocchoris noch zwei weitere römische Städte auf Mallorca: Guium und ­Tuccis. Einmal abgesehen von Theorien, die sich vor allem auf Ähnlichkeiten zu heutigen geografischen Ortsbezeichnungen stützen, fehlt von ihnen bis heute jede Spur.