Auf den ersten Blick wirkt das Buch über „Vergessene Pflanzen" wie ein antiquarisches Herbarium. Im Kontrast dazu stehen die unbekümmerten Texte der 35-jährigen Bloggerin Aina S. Erice. Sie richtet ihr Augenmerk auf Kräuter - und entzündet für eine jede dieser Pflanzen ein wahres Feuerwerk an Geschichten aus allen Kultur- und Wissensbereichen.

Der in dem renommierten Verlag Ariel erschienene Band ist zweifarbig gedruckt: der Text schwarz auf weiß, in zartem Türkis die Zeichnungen. Jede von ihnen stellt eine der hundert Pflanzen dar, die Aina S. Erice ihren Lesern immer nach dem selben Schema vorstellt: „Wo findest du sie?", „Wie haben wir sie genutzt?", „Wie haben wir sie uns vorgestellt?" Die erste Auflage war kurz nach Erscheinen vergriffen, es dauerte einen Monat, bis die zweite in den Buchhandlungen Palmas ankam.

Aina S. Erice kommt aus Palma, hat an der Balearen-Universität Biologie studiert, einen Master über die Physiologie mediterraner Pflanzen absolviert und drei Bücher veröffentlicht. Ihr Blog heißt „imaginandovegetales". Im Sommer schreibt sie auf einer Insel in Italien, im Winter kommt sie nach Mallorca und unterrichtet auf dem Bionorica-Mustergut Sa Canova bei Sa Pobla Schüler und Schülerinnen von sechs bis zwölf Jahren in Biologie und Naturschutz. Das Gespräch mit ihr fand auf einer Bank im Parc de Ses Estacions in Palma statt.

„Vergessene Pflanzen" - wie kam es dazu?

Ich habe dem Verlag das Thema vorgeschlagen, weil es schon so viele Veröffentlichungen über medizinische Pflanzen, Wildpflanzen oder essbare Blüten gibt. Manchmal sind es wissenschaftliche Texte, manchmal Naturführer mit Rezepten, manchmal Erzählungen der Großmütter. Ich versuche, das zusammenzuführen.

Sie empfehlen, alte Kräuterrezepte nicht einfach zu übernehmen...

Dieses Wissen hat seine Berechtigung, doch sollte man die Überlieferungen nicht im Sinne von copy and paste anwenden. Ich möchte es dem Leser ermöglichen, sich eine eigene, kritische Meinung über die Wirkung der pflanzlichen Heilkräfte zu bilden und selbst zu entscheiden, was er für richtig hält.

Das heißt, am Johannistag keine Kräuter ernten?

Vor hundert Jahren sind die Bewohner eines Dorfes immer am gleichen Tag auf den Berg gestiegen, um ein bestimmtes Kraut zu pflücken. Damals waren das 25 oder 30 Leute. Heute wären es tausend und die Pflanze längst ausgestorben. Leider ist mit dem Anstieg der Bevölkerung nicht auch die Einsicht gestiegen: „Es genügt, wie viel ich jetzt im Korb habe, den Rest lasse ich stehen, damit die Pflanze sich erholt." Man sammelt zu viel, zu schnell. So wie auch Hotels an Stränden hochgezogen worden sind, wo früher für den Erhalt der Dünen wichtige Distelarten gewachsen sind. Wir brauchen eine neue Pflanzenschutz-Ethik.

Sie beschreiben die Pflanzen ohne allzu viel Esoterik.

Wir Autoren, die populärwissenschaftlich über Pflanzen schreiben, bewegen uns auf einem schmalen Grat. Da sind die Wissenschaftler, die mit ihrer Terminologie die Botanik so erklären, dass 99 Prozent der Leser sie nicht verstehen. Und da sind die Esoteriker mit ihrer Begeisterung und ihrer spirituellen Perspektive. Sie sehen das alles nicht so eng und bringen damit die Wissenschaftler auf die Palme. Für mich ist es wichtig, die Pflanzen aus den verschiedensten Perspektiven heraus zu betrachten.

Wie lange haben Sie an dem Buch gearbeitet?

Vor zehn Jahren begann ich für mein erstes Buch „La invención del reino vegetal" (Die Entstehung des Königreichs der Pflanzen), Informationen über Pflanzen zu speichern. Und zwar aus allen Kulturbereichen, von der Antike bis heute. Als es erschienen war, entschied ich mich dazu, weiterzumachen. 2017 wurde mein Plan konkreter, und ich schickte einen Vorschlag an den Verlag.

In welchen Quellen werden Sie fündig?

Durch mein Botanik-Studium habe ich noch immer Zugang zur Datenbank der UIB. Meine beiden Eltern unterrichten dort Physik, ich bin zwischen den Büchern dort groß geworden. Reiche Quellen bieten jedoch auch die Stadt- oder Gemeindebibliotheken und die Bibliothek meines italienischen Schwiegervaters. Weitere Informationen sammle ich in Blogs, Podcasts und sozialen Netzwerken, aber auch in wissenschaftlichen Zeitschriften. Ich habe Tausende von Artikeln heruntergeladen und besitze ein hervorragendes Programm zur Textsuche in diesem Archiv.

Warum haben Sie die Pflanzen erst nach Habitaten und dann nach spanischen Namen alphabetisch geordnet?

Das Alphabet ist praktisch, aber mehr auch nicht. Dadurch, dass ich die Gewächse ihrer Umgebung, den Gemüsegärten, den Äckern, den Bächen und torrentes, den Wäldern und Bergen zugeordnet habe, bekamen sie ein

Narrativ. In dem Moment, wo die Pflanze in einen Kontext gestellt wird, bekommt die Geschichte einen Rahmen. Der Leser kann sich dann vorstellen, in welchem Umfeld er das Kraut einordnen kann. So ergeben sich auch die Nachbarschaften zu anderen Gewächsen.

Sie beschränken sich nicht auf die Balearen.

Ein Buch über Pflanzen kann sich nicht auf die Grenzen eines Territoriums beschränken. Denn obwohl man glaubt, eine Pflanze sein ganzes Leben lang zu kennen, kann sich von einem Moment zum anderen ein ganz neuer Aspekt ergeben. Die Terpentin-Pistazie zum Beispiel gilt in Spanien als Färberpflanze, im Nahen und Mittleren Osten sieht man ihre Beeren dagegen als Nahrungsmittel.

War es Ihre Idee, mit den Zeichnungen dem Buch einen nostalgischen Touch zu geben?

Das kam vom Verlag. Ich schlug dann die Katalanin Montse Moreta vor, die auf Ibiza lebt. Auf einer gemeinsamen Reise erzählte sie mir von ihren botanischen Zeichnungen.

Wie haben Sie die Pflanzen ausgewählt?

Das mit den „vergessenen Pflanzen" ist relativ: Für den einen ist eine Pflanze wohlbekannt, der andere hat von ihr noch nie gehört. Es war nicht einfach, sich zu entscheiden. Zum Teil habe ich mich von den Kindern inspirieren lassen, die Sa Canova besuchten und bis dahin nie die Gelegenheit hatten, den Duft einer Quitte zu erleben.

Information zum Buch:

El libro de las plantas olvidadas

von Aina S. Erice, Verlag Ariel,

Zeichnungen: Montse Moreta

412 Seiten, 22,70 Euro, Blog:

https://imaginandovegetales