Guillem Vizcaíno Llobera braucht eigentlich kein Kostüm, er ist auch abseits der Bühne eine Erscheinung. In seinem weitläufigen Garten in der Nähe von Inca trainiert der Jongleur und Messerwerfer unter schattenspendenden Bäumen und dem pyramidenförmigen Gestänge seiner Partnerin, der Trapezkünstlerin Mari Paz Arango. Die beiden Artisten bilden zusammen die Zirkuskompanie Atirofijo Circ.

Zurzeit fliegen bei Vizcaíno jedoch keine Bälle in die Luft, sondern etwas ganz anderes: mallorquinische Kreisel, die sogenannten ­baldufes. In seinen flinken Händen fängt das ­traditionelle Kinderspielzeug förmlich an zu tanzen: Es dreht sich auf seinem Unterarm und seinen Fingerspitzen, balanciert auf einem diagonal gehaltenen Brett.

Der Jongleur wickelt ein Seil um die Kreiselspitze, schleudert die ­baldufa damit auf einen Teller auf einem ­Podest, als würde er rückwärts Lasso werfen. Oder er lässt sie auf einen Blecheimer hüpfen, den er sich auf den Kopf setzt, wo der Kreisel weiterwirbeln darf. Die Kunststücke gelingen ihm mit einer Leichtigkeit, dass jeder Kreiselfan auf dem Schulhof vor Neid erblasst.

„Baldufes" auf neuer Mission

„Was mir an den baldufes vor allem gefällt, ist, dass sie sehr dankbare Objekte sind", sagt ­Vizcaíno. „Hier auf Mallorca kennt sie jeder. Die Menschen erkennen sie wieder. Und wenn sie schon einmal damit gespielt haben, verstehen sie, wie schwierig es ist. Sie verstehen das Objekt." Immer wieder kämen Zuschauer später zu ihm und berichteten von ihren eigenen, teilweise frustrierenden Kreisel-Erfahrungen.

Die Kinder von heute hingegen wüssten oft gar nicht mehr, wie man damit spielt oder würden nur Kreisel aus Plastik kennen, wie sie etwa 2014 und 2015 schwer in Mode ­waren. „Ich möchte an die Tradition erinnern, den Leuten zeigen, dass die baldufa als Spielzeug immer noch existiert und für mich noch nicht verloren ist", erklärt der Jongleur.

Ehrgeiz und pure Begeisterung

Dabei fand Vizcaíno selbst eher per Zufall zurück zu den Kreiseln: Vor zweieinhalb Jahren kugelte er sich die Schulter aus. Er bekam von einer Zirkuskollegin einen Kreisel geschenkt, mit dem er trotz des fixierten Arms herumspielte. Die Neugier war geweckt, eins führte zum anderen: Sein Vater brachte ihm den etwas mitgenommenen Holzkreisel aus seiner Kindheit vorbei, die beiden probierten zusammen Tricks aus.

Am Tag darauf fertigte ihm sein Vater eine neue baldufa auf seiner Drehbank und brachte ihm später das Handwerk bei. Die meisten aktuellen Modelle stammen daher aus Vizcaínos Eigenproduktion. Er tüftelte lange an der perfekten Form, sein aktueller Favorit ist ein etwa pampelmusengroßes Exemplar.

Vizcaíno experimentierte, recherchierte, übte und lernte. Er fand nur wenige nützliche Informationen für das Training, da ihm ja besonders die traditionellen Kreisel aus Holz gefielen, die noch kaum Bühnenluft schnuppern durften. „Das hohe Niveau, auf das Guillem das Kunststück mit den baldufes gebracht hat, ist erstaunlich", lobt Zirkusdirektor Tià Jordà im Telefongespräch. „Vor allem, weil er sich beim Erforschen auf kaum ausgetretenen Pfaden bewegt hat. Auf nationaler Ebene ist er einer der Vorreiter."

Er sei nicht nur ein guter Artist, sondern auch ein Visionär und verstehe es, das ­Potenzial von Dingen auszuschöpfen. Dafür braucht es wohl nicht nur Ehrgeiz, sondern auch eine Menge Leidenschaft: „Ich habe mich verliebt. Es ist wirklich erstaunlich: Seit ich 14 oder 15 war, habe ich mich nicht mehr so sehr für etwas begeistert", sagt der Jongleur.

Zirkus lässt sich nicht stoppen

Jordà kann sich noch gut an die Anfänge er­innern. Vor 15 Jahren hatte der Circ Bover noch keinen Namen, aber er selbst war schon auf der Suche nach Artisten. „So traf ich ­Guillem in Inca: einen 17-jährigen Jungen, der fast zwei Meter groß war und ein Überflieger, obwohl er noch nie auf einer Bühne gestanden hatte", sagt Jordà. „Er hat auf dem Platz vor der Kirche mit fünf Keulen trainiert. Heute ist er der ­renommierteste Jongleur auf den ganzen Balearen." Vizcaíno, der auch als Messerwerfer auftritt, war seitdem bei den meisten Programmen des Circ Bover dabei.

Der Zirkus feiert derzeit auf einer Tournee sein 15-jähriges Bestehen. Die Show „Circ a la fresca" ist laut Jordà eine Hommage an alle Künstler und greift Zirkus-Anekdoten auf, die davon erzählen, Schwierigkeiten zu überwinden und über sich hinauszuwachsen. Die Botschaft: Auch eine Pandemie wird den Zirkus nicht aufhalten.

Der Circ Bover sei spanienweit die erste Kompanie gewesen, die nach der Corona-Krise wieder auftreten durfte - unter freiem ­Himmel, so Jordà. Ihr selbst entwickeltes Sicherheitsprotokoll habe andere Zirkuskollegen inspiriert und ihnen allen in diesen schwierigen Zeiten Mut gemacht.

Besondere Nähe und Intimität

Elegant in Schale geworfen und mit mallorquinischer Musikbegleitung präsentiert Vizcaíno bei der Show seine neue Kreisel-Nummer. Die ersten Auftritte seit dem 29. Mai in Pollença seien etwas seltsam gewesen: Die wenigen Zuschauer in separierten Gruppen mit Atemschutzmasken und Sonnenbrillen machten es zu einer Herausforderung für die Artisten, mit ihrem Publikum zu kommunizieren.

Und dennoch: Gerade in Zeiten, wo Videos der besten Zirkuskünstler der Welt nur einen Mausklick entfernt sind, bleibt der Trumpf des Circ Bover die Erfahrung von Nähe und Intimität. „Ich denke, das Erlebnis mit allen Sinnen kann man nie über einen Bildschirm bekommen", sagt der Jongleur. „Dieses Gefühl, wenn jemand einen Kreisel in deine Richtung wirft und er nur einen Meter vor dir landet. So etwas bringt dich auch heute noch zum Staunen."

Viele der nächsten Auftritte des Circ Bover sind bereits ausverkauft. Die Termine (etwa 12.7., Andratx) werden bei Facebook eingestellt: „CircBover".