Anfang Juni war die Coronavirus-Krise auf Mallorca noch in vollem Gange. Trotzdem warben Reiseagenturen des Vereinigten Königreichs auf ihren Websites schon wieder wie in alten Zeiten für Magaluf, mit All-inclusive-Paketen und einem ungezügelten Spaßurlaub. Dabei schien vergessen, dass Massenveranstaltungen wegen der Social-Distancing-Regeln gar nicht stattfinden können und die Balearen-Regierung bereits im Januar eine Eilverordnung erlassen hatte, um dem Sauftourismus und auch Phänomenen wie dem sogenannten Balconing - das Klettern von Balkon zu Balkon - Einhalt zu gebieten. Während der britisch geprägte Partyort bei im Ausland lebenden Deutschen weniger bekannt ist, verbinden ihn wohl auch die meisten Insel-Residenten mit Schlagwörtern wie „Exzessen", „billiger Alkohol" und „vorwiegend Briten".

Wie der einst unscheinbare Ort zu dem geworden ist, was er heute ist, erzählen die Historiker Gabriel Vives und Tomeu Canyelles in ihrem vor Kurzem auf Katalanisch veröffentlichten Buch „Magaluf, més enllà del mite" (Magaluf, abseits des Mythos). „Eigentlich wollten wir eine Arbeit darüber schreiben, wie Sensationsjournalismus die Realität verändert. Bei den Recherchen fiel uns auf, wie intensiv sich der Boulevard mit Magaluf beschäftigte", so Vives. Also begann das Zweier-Team, gezielt Material zu suchen, insbesondere ab den 70er-Jahren. Neben Büchern mallorquinischer Autoren und den Artikeln lokaler Medien, etwa der MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca", befragten die beiden Historiker etliche Anwohner, Beamte der Guardia Civil, Politiker, Mitarbeiter von Diskotheken und Hotelrezeptionen sowie Gesundheitspersonal. Zur Feldforschung gehörten auch einige Tage vor Ort. „In einer Nacht etwa haben wir gezählt, wie oft uns Promoter (tiqueteros) an der Punta Ballena angehalten haben. Auf einer Länge von nur 400 Metern wurden wir ganze 20 Mal angesprochen", erzählt Canyelles.

Viereinhalb Jahre Arbeit stecken in dem knapp 240-seitigen Buch, das bei Lleonard Muntaner erschienen und in fünf Kapitel unterteilt ist. „Zunächst erklären wir ein paar generelle Dinge - etwa dass sich der Name ,Magaluf' wohl aus den arabischen Wörtern ,Ma' und ,Haluf' zusammensetzt, was so viel wie ,Schmutzwasser' bedeutet und auf die damaligen Feuchtgebiete der Gegend anspielt", sagt Canyelles. In dem Küstenort sei dann über Jahre hinweg das Tourismuskonzept von sol y playa (Sonne und Strand) ausgebaut worden. Auch die Einführung von All-inclusive-Angeboten und die „Britannisierung" des Ortes schildern die beiden detailliert.

Ein weiteres Kapitel namens „Com infants jugant al paradís" (Wie Kinder, die im Paradies spielen) widmen die Autoren dem Alkohol, laut Vives einem der „Grundpfeiler der Geschichte von Magaluf". Canyelles erinnert sich noch daran, dass Minderjährige in den 90er- Jahren, als er mit seinen Eltern dort die Sommer verbrachte, problemlos an Alkohol kam. Auch die Sicht der deutschen Presse kommt in diesem Abschnitt-Teil vor: Die Autoren zitieren zum Beispiel einen Artikel vom „Diario de Mallorca" von Mai 1982, der sich wiederum auf die Texte einer Sonderausgabe des Magazins „Stern" bezieht. „Mallorca ist für die Zeitschrift letztlich ein Paradies der Freiheit, wenn damit gemeint ist, dass man anderen Discobesuchern seinen Hintern zeigt, in Unterhose posiert, mit den Fingern isst, sich sein Gesicht mit Tomaten beschmiert und macht, wozu man Lust hat, während einem die Meinung der anderen egal ist", heißt es dort. Einige Zeilen widmen die Autoren im selben Teil auch dem als „Discokönig" bekannten Bartomeu Cursach, der sich über die Jahre hinweg im Nachtleben ein Imperium aufgebaut hatte, zu dem auch die Großdiskothek BCM sowie der Megapark an der Playa de Palma gehören. Gegen ihn wird seit 2017 ermittelt, er wird sich wegen mafioser Praktiken vor Gericht verantworten müssen.

Weitere Themen wie Hooligans, Kriminalität, Prostitution und Vandalismus hat zumindest Canyelles bei Urlauben live miterlebt. „Ich erinnere mich an viele absolut chaotische Nächte im Hotel Sahara", so der 36-Jährige. Mit den Jahren sei der Anblick britischer Urlauber, die Geschirr oder Möbelstücke von ihren Hotelbalkons schmeißen, für ihn beinahe normal geworden. Co-Autor Vives war zum ersten Mal mit Anfang 20 in dem Urlaubsort. „Erst während der Arbeit für das Buch habe ich mich genauer mit Magaluf beschäftigt. Davor kannte ich es nur aus Erzählungen", so Vives.

Unter dem Titel „What happens in Magaluf" fassen die Autoren Phänomene zusammen, die in Magaluf oft extremer stattfinden als anderswo: Sex am helllichten Tag, reihenweise oben ohne feiernde Partygäste oder die Unmöglichkeit, ein Souvenir zu finden, das nicht die Form eines Penis hat. Auch der Skandal, bei dem 2014 eine Frau in der Öffentlichkeit mehrere Männer hintereinander oral befriedigte, ist bei Vives und Canyelles Thema, ebenso wie das Balkonklettern. „Ich erinnere mich noch an einen Tag, an dem wir darüber sprachen, dass in diesem Sommer noch keiner vom Balkon gefallen sei. Und noch am gleichen Tag gab es dann einen Balkonsturz", sagt Canyelles.

Tomeu Canyelles (li.) mit Gabriel Vives an der Punta Ballena. Das Buch gibt es im spanischen Buchhandel und bald wieder auf Amazon für 19 Euro.

Die Medien und die von ihnen verwendete Sprache würden eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des Mythos Magaluf spielen, so die beiden Autoren. „Wenn in Benidorm jemand vom Balkon fallen würde, bekäme man das kaum mit. Passiert es in Magaluf, greifen es sogar internationale Medien auf", sagt Canyelles beispielhaft. Der Sündenpfuhl Magaluf sei eben ein Thema, das sich gut verkaufen würde. Auch Medien, die Magaluf in Artikeltiteln mit Vietnam vergleichen, und den Ort damit stigmatisierten, würden gleichzeitig ihre Leser anlocken.

Letztlich, so Canyelles und Vives, seien die Probleme von Magaluf auf ein noch aus den 70er-Jahren stammendes Tourismuskonzept zurückzuführen. Welche Nachteile es hat, alles auf diese Karte zu setzen, macht derzeit die Pandemie deutlich: Die britische Urlauberhochburg liegt ohne die Freunde des Exzesses derzeit weitgehend ausgestorben da.