Als was begreifen sich die Menschen auf der Insel? Als Mallorquiner, die Ball de Bot tanzen, Sobrassada essen und König Jaume I. huldigen, der 1229 die Mauren besiegte und die Insel einnahm? Oder doch zunächst als Spanier, die mit La Roja fiebern und den heutigen König Felipe VI. als Staatsoberhaupt anerkennen? Natürlich gibt es nicht die eine mallorquinische Identität, genauso wenig wie alle Bayern oder alle Hamburger gleich gepolt sind. Und doch gibt es verbindende Elemente, die viele Bewohner der Insel miteinander teilen - und die sich mit der Zeit wandeln.

Gleich zwei renommierte Historiker der Balearen-Universität haben kürzlich Bücher zu diesem Thema veröffentlicht. Es sind Studien, die sich gegenseitig ergänzen. Da wäre einmal das Werk von Antoni Mas i Forners, der seine 388 Seiten lange Abhandlung mit dem allumfassenden Titel „Llengua, terra, pàtria i nació" (Sprache, Land, Heimat und Nation) versehen hat. Über 20 Jahre lang hat der Professor aus Santa Margalida für das Buch recherchiert, in dem es hauptsächlich um die Herausbildung der mallorquinischen Identität geht. Sein Kollege Pere Salas hat sich hin-gegen in „L'espanyolització de Mallorca (1808-1923)" auf die „Hispanisierung" im 19. Jahrhundert konzentriert.

Alles begann mit einer Invasion

Mas i Forners setzt bei Jaume I. an. „Die Vorstellung einer mallorquinischen Gesellschaft entstand erst als Folge der Wiedereroberung", sagt er im Gespräch mit der MZ. Hunderte von jungen Männern, die mit Jaume I. aus Katalonien und Aragón in den Krieg gezogen waren, ließen sich mit ihren Familien auf der Insel nieder. Die bis dahin ansässigen Mauren wurden getötet oder zur Sklaverei verdammt. In der Folge waren zwischen 30 und 40 Prozent der Bevölkerung Sklaven aus Osteuropa, der Türkei und Afrika.

„Das wichtigste identitätsstiftende Merkmal war zu dieser Zeit die Religion, viel stärker als eine geografische Zusammengehörigkeit", sagt Mas i Forners. Die christlich geprägte Bevölkerung in Zeiten der Reconquista habe sich eher mit einem deutschen Kreuzritter identifiziert als beispielsweise mit einem griechischen Orthodoxen, obwohl man durch das Verbindende des Mittelmeerraums hier mehr Gemeinsamkeiten vermuten könnte. Die römisch-katholische Kirche mit ihrer liturgischen Einheit und dem Baustil der Kirchen habe für eine gesamtchristliche Identität gesorgt, sagt Mas i Forners.

Wir und all die anderen

Hinzu kam eine große räumliche und gedankliche Nähe zur Krone von Katalonien. „Die Christen nannten sich zu Beginn 'Katalanen', um sich von den Sklaven und den Juden abzugrenzen", sagt Mas i Forners. Damit einher ging ein Gefühl der kulturellen Überlegenheit gegenüber den anderen Volksgruppen. Zusätzlich gefestigt wurde diese Identität durch die katalanische Herkunft der meisten Christen, der Tatsache, dass man auf einer Insel lebte, also auf einem räumlich begrenzten Territorium, und von der Treue zum König.

Eine erste tiefgreifende Änderung brachte die Hochzeit der Königin Isabel von Kastilien und König Fernando von Aragón im Jahr 1469 mit sich. Plötzlich war die Krone von Aragón mitsamt Katalonien und den Balearen nur noch ein Anhängsel der kastilischen Krone. Etwa zur selben Zeit verschwanden durch Vertreibung oder Zwangskonvertierung auch die Minderheiten auf Mallorca. „Die Menschen auf der Insel nannten sich nicht mehr Katalanen, weil es nicht mehr nötig war, sich von Sklaven und Juden zu unterscheiden."

Das Zentrum des Königreiches war nun Toledo und damit Kastilien. Castellano als Sprache gewann an Einfluss. Die Mallorquiner sahen ihre Insel nun als „Nation katalanischen Ursprungs, aber nicht mehr als katalanisch" an. „Ab diesem Moment nannten die Mallorquiner ihre Sprache mallorquí, und nicht mehr català, obwohl ihnen natürlich bewusst war, dass es sich um dieselbe Sprache handelte", sagt Mas i Forners.

Die Bourbonen greifen durch

Zwei Strömungen bestimmten die Identitätsfindung der Mallorquiner zu dieser Zeit: Zum einen eine Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen, die eigene Sprache und etwa die Verehrung des mittelalterlichen Theologen und Philosophen Ramon Llull. Auf der anderen Seite eine immer stärkere Identifikation mit dem restlichen Spanien, wozu auch die sogenannten „Decretos de Nueva Planta" von König Felipe V. beitrugen, der mit diesen Verordnungen die Verwaltung in den von ihm beherrschten Gebieten in Spanien vereinheitlichte und Castellano zur Amtssprache machte. Dennoch sprach bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert der überwiegende Teil der Mallorquiner kaum ein Wort Spanisch.

Das sollte sich mit dem Jahr 1808 und dem Beginn der Napoleonischen Kriege ändern, der wohl wichtigste Einschnitt auf dem Weg zur gesamtspanischen Identitätsfindung. Auf einmal kämpften Mallorquiner Seite an Seite mit Kastiliern und Basken gegen die Vormacht Frankreichs und Großbritanniens. „Einen gemeinsamen Feind zu haben, verbindet stärker als vieles andere", sagt Mas i Forners. „Die Mallorquiner sind regelrecht enthusiastisch mit dem spanischen Heer in den Krieg gezogen", erklärt Pere Salas.

Nationalstaaten haben Vorteile

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Mallorquiner immer mehr zu Spaniern, ohne aber ihre Traditionen oder die Sprache aufzugeben. Mas i Forners begründet die Entwicklung vor allem mit dem größeren Prestige von Spanien in der Welt. Pere Salas unterstreicht den praktischen Nutzen als vorherrschendes Motiv, sich mehr und mehr mit dem Nationalstaat zu identifizieren. „Natürlich hat der Nationalstaat seine Interessen durchgedrückt, aber die Menschen haben sich dadurch auch Vorteile versprochen, sonst hätte das nicht funktioniert", sagt Salas.

Grundrechte, wie etwa Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung, Zivilrechte oder auch Aspekte wie das Wahlrecht, ein Gesundheitssystem, ein einheitliches Währungssystem und nicht zuletzt ein einheitliches Schulsystem seien starke Argumente für den spanischen Nationalstaat gewesen. Dadurch, so Salas, sei auch die mallorquinische Sprache immer weiter zurückgedrängt worden, nicht als Folge von Verboten, sondern weil das Spanische im Alltag präsenter wurde.

Noch stärker änderte sich das ab den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als mit dem Beginn des Massentourismus Zehntausende Arbeitskräfte vor allem aus Andalusien nach Mallorca kamen. „Die mallorquinische Identität wird seitdem Stück für Stück noch ein wenig spanischer", sagt Pere Salas. Man müsse sich ja nur anschauen, welche Parteien die Insulaner wählten. Regionalparteien wie Més oder El Pi etwa kamen in den jüngsten Wahlen 2019 zusammen gerade mal auf 16,5 Prozent. Allerdings gibt es speziell unter den jungen Leuten in den Dörfern heute wieder viele, die mallorquinische Traditionen pflegen und ganz selbstbewusst Mallorquí sprechen.