Die Serpentinenstraße auf Mallorca hinunter an den Ort der Ruhe ist auch so schon abenteuerlich genug. Besonders für Menschen mit Höhen- und Platzangst oder Fahrer eines besonders sperrigen Autos gilt für die rund 15 Minuten zwischen der Abzweigung von der Tramuntana-Straße Ma-10 und dem Küstenort Port des Canonge höchste Konzentration. Schließlich kann einem auf der engen Serpentinenstraße über den Pass Son Coll jederzeit ein Auto entgegenkommen. Derzeit ist noch ein bisschen mehr Konzentration gefragt: Immer wieder zieht die von Sturmtief und Windhose zerstörte Landschaft die Aufmerksamkeit von der Straße weg. Am 29. August vergangenen Jahres hatten die Naturgewalten in wenigen Minuten Tausende Bäume ausgerissen oder umgeknickt. Besonders in einigen Kurven im mittleren Teil der Strecke ist der Blick auf die Verwüstung frei. Kaum vorstellbar, dass bei dem Sturm niemand verletzt wurde.

Wer einige Minuten später und viele Höhenmeter weiter unten an den ersten vereinzelten Häusern vorbeirollt, hat es fast geschafft. Endlich Straßenlaternen, die Straße wird breiter. Auch hier liegen am Straßenrand noch immer große Äste, einige Wegweiser stehen schief, am Strand mit seinen aufschlagenden Wellen türmen sich Holzteile auf. Kaum ein Mensch ist an diesem Feiertagsmontag (1.3.) auf der Straße, nur ein paar Wanderer sind Richtung Banyalbufar unterwegs.

Lebt in dem Dorf mit der beschwerlichen Serpentinen-Zufahrt denn überhaupt jemand dauerhaft? Oder genießen Insulaner hier nur kurze Aufenthalte in ihren Ferienhäusern? Wie oft nehmen sie den kurvigen Weg ins nächste Dorf oder gar nach Palma auf sich? Denn außer den zwei Restaurants, von denen eines an diesem Montag noch geschlossen ist, gibt es hier nichts - keine Kirche, keinen Laden, keine Apotheke, kein Sportzentrum und auch kein Gemeindehaus.

Die Verwurzelte

Nicht einmal die Hälfte der Hausbesitzer lebe hier dauerhaft, meint Marga Ferragut, der wir schließlich über den Weg laufen. Auch die 29-Jährige, die ihre Mutter im Familienrestaurant Can Madó unterstützt und deren Vater als Fischer arbeitet, wohnt mittlerweile mit ihrem Mann in Palma. Dennoch hat sie weiter eine starke Verbindung zu dem Ort. „Ich wurde mit dem Meerwasser am Strand getauft und habe auf dem Aussichtspunkt ganz in der Nähe auch geheiratet", erzählt Ferragut. Schon vor Jahrzehnten hatten sich ihre Eltern einen Bungalow in Port des Canonge gekauft. Seither verbrachte die Familie die Wochenenden und im Sommer ganze Monate in dem Ort, zuletzt auch die Quarantäne.

Der beschwerliche Weg hält Ferragut nicht davon ab, täglich von der Insel-Hauptstadt Palma nach Port des Canonge zu fahren. Die Kurven kenne sie in- und auswendig. „Ich habe hier Autofahren gelernt. Oben an der Abzweigung zur Ma-10 hat dann immer mein Freund übernommen", erinnert sich die junge Frau. Auch daran, wie sie zusammen mit anderen Bewohnern des Ortes früher mit Fahrrädern, Rollern oder sogar selbst gebauten Seifenkisten bis runter zum Strand rauschte. Wegen der zahlreichen Bewohner und Besucher aus dem Nachbarort wird er denn auch „Strand von Esporles" genannt.

Kommt einem auf der Straße doch mal ein Auto entgegen, sollte man am besten in einer Kurve anhalten, rät Ferragut. „Wer mit einem Beifahrer unterwegs ist, kann ihn regelmäßig nach oben und unten Ausschau halten lassen." Gerade nachts sei die kurvige Straße trotz der fehlenden Beleuchtung durch Straßenlaternen gut zu fahren. „Durch die Scheinwerfer bemerkt man entgegenkommende Autos früher", so Ferragut. Ansonsten sei es in Port des Canonge immer so dunkel, dass man als Bewohner sofort merkt, wie voll der Mond gerade ist - je nach der Lichtmenge, die er auf die Straße wirft.

Am ersten Tag nach dem großen Sturm im August 2020 gab es zunächst kein Durchkommen. Die Straße war so verwüstet, dass der Asphalt nicht mehr zu sehen gewesen sei. „Meine Mutter fuhr gleich am Tag darauf herunter, und selbst für die Anwohner war das nur in einem Fahrzeug der Feuerwehr möglich", erzählt Ferragut. „Zum Glück mussten wir an unserem Restaurant nur das Dach aus Rohrgeflecht sowie einige Kleinigkeiten erneuern." Und einige Tage lang gab es keinen Strom. In den folgenden Wochen kamen dann immer wieder Menschen vorbei, um das Holz der umgefallenen Bäume einzusammeln.

Die gute Nachbarin

Ebenfalls unversehrt geblieben ist das Haus von Adela Escalas und ihrem Bruder schräg gegenüber. Doch der Schreck sitzt noch sehr tief. „Mein Bruder war am Tag des Sturms im Haus", erinnert sich Escalas. Da noch Stunden danach die Handy- und Telefonleitungen in Port des Canonge unterbrochen waren, machte sie sich große Sorgen um ihn, wie sie erzählt. Tränen steigen ihr beim Sprechen in die Augen. „Es tut mir auch für die Umwelt so leid. Es wird Jahrzehnte dauern, bis sich die Landschaft erholt hat", meint die Beamtin, die im Sommer für mehrere Monate und im Winter vor allem an den Wochenenden in den Ort kommt und wie Marga Ferragut größtenteils in Palma wohnt.

„Der Winter hier ist hart. Um 17 Uhr ist es dunkel. Es gibt nichts. Ich habe keine Kinder, was soll ich also alleine in dem Haus machen? In Palma kann ich ins Fitnessstudio oder jetzt was mit Freunden trinken gehen", so Escalas. Dennoch schätzt sie die familiäre Atmosphäre und etwa die Gewohnheit, dass sich die Bewohner regelmäßig Fisch sowie Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten schenken. Groß einkaufen müsse man hier nicht. „Ein großer Gefrierschrank hilft auch", lacht Escalas.

Und wer beim Einkaufen doch einmal etwas vergessen hat, kann sich vertrauensvoll an eines der beiden Restaurants im Ort wenden und die Wirte beispielsweise nach einem Päckchen Milch fragen.

Der Veteran

„Für mich ist es ein Paradies", sagt Jaime del Barrio, der mit Freunden auf einer Terrasse sitzt und den Blick aufs Meer und die unberührte Landschaft genießt. Seit mehr als 60 Jahren kommt er regelmäßig in den einstigen Fischerort, seit 50 Jahren lebe er zusammen mit seiner Frau fest hier, erzählt der 84-Jährige. Als ihn im Jahre 1957 sein Schwager zum Pilzesammeln mit nach Port des Canonge nahm, stand für ihn schnell fest: „Hier werde ich einmal leben. Ich habe gerne meinen Freiraum und genieße mein Boot, mit dem ich noch heute rausfahre", so der Port-des-Canonge-Veteran, der lange Zeit eine Wohnung in Palma hatte. „Ich bin generell ein Landei und kein Stadtmensch." Auch seine Kinder sind hier aufgewachsen und lebten eine Zeit lang mit ihren Familien in dem Ort. Dann sei die Fahrerei den Jüngeren in der Familie zu kompliziert geworden, sodass heute nur seine Frau mit ihm in Port des Canonge lebt.

Dass nicht einmal die Überlandbusse bis hierherfahren, macht del Barrio nichts. Auch nicht, seit seine beiden Söhne ihn „gezwungen" haben, sein Motorrad zu verkaufen. „Ich bin ein Kurven-Typ", so der agile 84-Jährige, der jetzt eben mit einem Roller unterwegs ist. Die steile Fahrt nach oben sei damit ebenfalls problemlos zu schaffen. „Und wenn ein Auto kommt, halte ich eben kurz an." Halb so schlimm wie früher. Del Barrio erinnert sich auch noch gut an die Zeit, als die Straße noch nicht einmal asphaltiert war und auch die wenigen kurzen Leitplanken am Straßenrand noch nicht angebracht waren.

Die Einkäufe erledigt aber heute seine Frau mit dem Auto. „Bis zur Pandemie ist sie auch jeden Tag zum Schwimmen an die Balearen-Universität nach Palma gefahren", erzählt er stolz. Del Barrio selbst fährt nur noch zwei- bis dreimal pro Monat nach „oben", etwa wenn er nach Palma zum Arzt muss. Mit dem Roller fühlt er sich jedenfalls unabhängig.

Der Familien-Chauffeur

Die fehlende Busverbindung stärker zu spüren bekommt indes Joan Manuel. Da seine 19-jährige Tochter Rosila noch keinen Führerschein hat, bringt der Rentner sie fünfmal pro Woche zu ihrer Ausbildungsstätte nach Calvià und manchmal noch zu Sportkursen. Anfangs habe er sich noch einen Spaß daraus gemacht, die Kurven zu zählen, wenn er zusammen mit anderen im Auto unterwegs war. „64 ab der Hauptstraße oben", schießt es aus dem Familienvater heraus. Mittlerweile komme ihm die Straße trotz der vielen Serpentinen fast schon vor wie eine Gerade.

Auch nach 20 Jahren will er weiterhin mit den Seinen in dem Haus direkt am Meer wohnen, das die Familie hier erworben hat. „Daher fände ich es besser, wenn Rosila bald den Führerschein hat." Die 19-Jährige fühlt sich in dem Ort jedenfalls pudelwohl, wie sie sagt. „Ich war sowieso nie der Feiertyp, sondern mache es mir eher zu Hause gemütlich, spiele mit den Hunden, höre Musik oder schaue fern", so Rosila, die versichert, dass ihr bei der Fahrt nach oben selbst als Beifahrerin nicht schlecht werde. Die abgelegene Lage sei sie längst gewohnt. Ihr großer Bruder lebt aber mittlerweile mit seiner Freundin in Colònia de Sant Jordi.

Längst an den etwas beschwerlichen Weg zu seiner Freundin gewöhnt hat sich auch Alex Santiago. Seit inzwischen anderthalb Jahren fährt der 22-Jährige regelmäßig nach Port de Canonge. Seine einzige Befürchtung bei jeder Abfahrt: „Hoffentlich habe ich keinen langsamen Fahrer vor mir", meint Santiago grinsend. Die kurvenreiche Strecke nehme er sogar gerne auf sich.

Die Mutige

Fast gelähmt vor Angst hat dagegen Patricia Ferrer ihre erste Fahrt alleine in den Küstenort gemeistert, wie sie erzählt. Die Kurvenfahrt nahm sie überhaupt nur auf sich, um sich hier an einen Freund zu erinnern, der gerade verstorben war. „Ich habe die ganze Zeit vor Angst geweint", so Ferrer, die schon seit ihrer Kindheit an chronischem Schwindel leidet. Dann machte auf der Fahrt auch noch ihr Handy schlapp. Auf der Suche nach einem Funkkontakt nach oben lernte die 48-Jährige dann Joan Manuel kennen, mit dem sie sich sofort gut verstanden habe. Nun kommt Ferrer öfter, um ihn zu besuchen. Aber „nach Sa Calobra werde ich trotzdem niemals hinunter fahren", so die Mallorquinerin über die die noch berüchtigtere Kurvenstrecke an der Nordküste. Und auch wenn sie mittlerweile geübter hinunter- und wieder hinauffahre, habe sie gerade vor dem höheren Verkehrsaufkommen im Sommer Respekt.

Denn mittlerweile finden auch immer mehr Ausflügler den Weg in den kleinen Küstenort, und Joan Manuel und seine Familie fühlen sich gerade nach dem Bad im Meer von Wanderern und Badegästen auf ihrer Terrasse beobachtet. „Ich versuche, wenig von Port des Canonge zu erzählen und auch keine Fotos von hier in die sozialen Netzwerke hochzuladen. Ich will einfach nur in Ruhe aufs Meer schauen können und mag es nicht, wenn hier wie auf einem Boulevard die Menschen vorbeiströmen. Je schlechter der Zustand der Straße, desto besser für uns", findet der Rentner. Wenn es in Port des Canonge einen Sandstrand und Beachclub gäbe, könnte man dort nicht mehr leben, ist er sich sicher.

Und für den Fall, dass es in ein paar Jahren in dem beschaulichen Ort doch zu voll wird, hat er sich schon ein anderes Fleckchen auf Mallorca ausgesucht. Wo das liegt? „Das werde ich nicht verraten", sagt er.