Da ist dieser Kitzel auf der Daumenhaut, das Wissen, dass gleich etwas passiert, sich etwas bewegt, und die Faszination, wie unser Gehirn immer wieder aufs Neue ausgetrickst wird. Wer als Kind schon einmal ein Daumenkino in der Hand hatte, erinnert sich vermutlich: Durch das schnelle Abblättern von Einzelbildern wird scheinbar eine Bewegung erzeugt und so eine Mini-Geschichte erzählt.

Diese Technik haben die Deutsche Julie Reier und ihr Mann Jossie Malis perfektioniert und 2016 einen Verlag für Daumenkinos (flip books engl., folioscopios span.) gegründet: flipboku. Der Großteil ihrer Büchlein bietet jeweils sechs verschiedene Geschichten - je nachdem, wo man den Daumen ansetzt und von welcher Seite aus man sie öffnet. Wie das drucktechnisch möglich ist, bleibt ihr Geheimnis. Bei einigen der Daumenkinos muss der Betrachter im Vorfeld zudem selbst aktiv werden und etwa erst noch Formen ausmalen oder durch Linien, die beim Verbinden von Zahlen nach der angegebenen Reihenfolge entstehen, überhaupt erst Formen schaffen.

Das jüngste Projekt des gelernten Anima­tionsdesigners und der Filmmusik-Komponistin, die auf Mallorca leben, heißt „The Pioneers" (Die Pioniere) und ist eine Hommage an die Vorreiter der Film- und Animationswelt. Zehn Daumenkinos stellen jeweils die wesentlichen Werke ihres Schaffens dar. Mit dabei ist etwa die deutsche Scherenschneiderin und Silhouetten-Animations­filmerin Lotte Reiniger. Ihr Silhouettenfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed" aus dem Jahr 1926 ist der erste noch erhaltene Trickfilm. In dem ihr gewidmeten Daumenkino kann man sich durch fünf Sequenzen blättern.

Insgesamt 60 Filmsequenzen gibt es in der „Pioneers"-Kollektion zu bestaunen. Um das aufwendige Projekt zu finanzieren, hat das Paar Mitte Mai eine Crowdfunding-Kampagne gestartet (beim Video kann man unter dem Sprechblasen-Symbol Untertitel auf Deutsch einstellen). Möglich sind Spenden, im Fall von höheren Beträgen wird die Spende direkt zur Vorbestellung eines der Packs oder der gesamten Kollektion.

Augmented Reality

Sowohl die Daumenkinos, als auch die Postkarten, die man als Dankeschön für kleine Spenden bekommt, bieten auf der Titelseite eine versteckte Überraschung: Die 39-Jährige und der 45-Jährige haben in das Design die sogenannte Augmented-Reality-Funktion integriert. Nutzer brauchen zunächst die App ­Artivive. Wer darin das Lesezeichen oder das Cover des jeweiligen Pionier-Daumenkinos einscannt, bekommt auf seinem Handy-­Display eine Mikrodokumentation mit zusätzlichen Infos eingeblendet. Auch bei einem ­anderen, dem Thema Raumfahrt gewidmeten Daumenkino namens „Apollo 11" gibt es diese Zusatzfunktion. In diesem Beispiel landet das Mondmodul „Eagle" scheinbar wenige Meter neben dem Aufenthaltsort des Nutzers auf der Hülle des Daumenkinos.

In größerer Stückzahl liefern Reier und Malis, beispielsweise für Hotels, Firmen oder die Organisatoren größerer Familienfeiern, auch personalisierte Daumenkinos. „Das ist ein sehr wichtiger Zweig, der uns während der Pandemie komplett weggebrochen ist", ­bedauert Reier, die in der gemeinsam mit ­Malis gegründeten Produktionsfirma Zumbakamera tätig ist.

Zur Daumenkino-Produktion kam das Paar, das sich 2006 in Barcelona kennengelernt hatte, eher zufällig: Um das letzte Kapitel ihrer Kurzfilmanimationsserie „Bendito Machine" zu finanzieren, hatten die beiden 2016 eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Als Geschenk für die Spender wartete damals ein Daumenkino. Da es bei den Empfängern auf unerwartet viel Zuspruch stieß, beschlossen Reier und Malis, weitere zu entwerfen. Doch aller Anfang ist holprig: Das Drucken in der Druckerei eines Bekannten in Portugal, dem die Technik vertraut war, stellte sich als unrentabel heraus. Zudem erwies es sich als unmöglich, das Projekt aus der Ferne zu begleiten. Eine andere Druckerei in Barcelona verfehlte den richtigen Schnitt um einen Millimeter. 10.000 Daumenkinos landeten im Müll. ­Letztlich sollte eine Druckerei in Palma de Mallorca die Daumenkinos produzieren. Doch die ging ­pleite, just als endlich der Schnitt gepasst hatte.

„Unsere Daumenkinos kann offenbar niemand anderes produzieren, wir müssen es selbst machen", dachten sich die beiden Kreativen. Seit 2019 entstehen sie nun an ihrem Firmensitz in Son Cotoner in Palma mit angeschlossener Druckerei. Auch einige Drucktechniker der pleitegegangenen Druckerei sind an Bord des sechsköpfigen internationalen Teams. Neben den 21 eigenen Daumen­kinos, die zwischen 15 und 36 Euro kosten, vertreibt das Paar auch die des japanischen Verlags Seigensha Art Publishing sowie die der finnischen Firma Napa.

Selbst zeichnen

Wer jetzt Lust bekommen hat, kann sich an der Blanko-Version von Flipboku probieren und selbst mit Stiften draufloszeichnen. Als Einführung gibt es noch eine Kurzanleitung zu den Grundprinzipien der Animation. „Mittlerweile wird fast alles mit dem Computer gezeichnet. Wir dagegen gehen zurück zu den Wurzeln der Animation."

Daumenkinos von Mallorca

flipboku.com, KampagneDaumenkino25 Euro gibt es ein Postkarten-/Lesezeichen-Set. Ab 55 Euro Vorbestellung eines der Packs, gesamte Kollektion 120 Euro.