Als Magdalena Dzieciniak vor fünf Jahren in das Altstadtviertel Sa Gerreria in Palma de Mallorca zog, konnte sie dort noch mit offenem Fenster schlafen. „Es war wunderbar, so ruhig wie auf dem Dorf und trotzdem mitten in der Stadt", sagt sie. Heute verbringt sie keine Nacht ohne Ohrstöpsel oder bleibt gleich bis halb drei Uhr nachts auf, bis sich der Lärm vor ihrem Schlafzimmer endlich gelegt hat. Die 35 Jahre alte Polin wohnt wenige Meter von der Pincho-Kneipe Molta Barra entfernt, dem Hotspot des derzeit explodierenden Nachtlebens in dem Viertel im Umbruch. Sie ist eine der vielen Anwohner, die zur Zeit gegen die Schwemme neuer Bars auf die Barrikaden gehen.

Innerhalb weniger Jahre wurde aus der Gegend ein neues Szene-Viertel – nach Jahrzehnten des Niedergangs mit Prostitution, ab den 80er Jahren auch mit Drogenhandel, dem Exodus vieler angestammter Bewohner aus den immer mehr verkommenden Gebäuden, und der darauf folgenden staatlich kräftig geförderten Sanierung.

Ein Szene-Viertel ist Sa Gerreria zumindest nach Einbruch der Dunkelheit. Tagsüber ist in der Gegend zwischen der Carrer Sindicat und den Avenidas, wo frisch glänzende Fassaden neben bröckelnden Balkonen und vermauerten gotischen Fensterbögen den besonderen Charme ausmachen, weiterhin wenig los. Gleichwohl ist viel in Bewegung. Läden machen auf, Läden machen zu. Bars machen auf, und noch mehr Bars machen auf. An der Plaza Quartera, wo sich bis vor wenigen Monaten ein kreativer Blumenladen versuchte, brummt jetzt die Bar Cero 58. An der Ecke, wo es ein paar Monate Tätowierungen und Haarschnitte gab, zog ein „Don Jamón"-Ableger ein. Sa Gerreria ist auf dem besten Weg zur Pincho-Monokultur.

Denn ihren Erfolg haben die vielen neuen Lokale vor allem auf den fantasievoll belegten Schnittchen gebaut. Nacho Summers (42) vom Molta Barra an der Plaza Pes de la Farina verhalf dem Kneipen-Hopping in sa Gerreria mit seiner Idee der „Ruta Martiana" zum Durchbruch: Seit 20. Oktober 2009 bieten mehrere Bars in unmittelbarer Nähe die Kombi aus Bierchen plus Pincho am Dienstagabend zu zwei Euro an. Anfangs beteiligten sich zwölf Lokale, heute sind es 28 und seit Januar geht die „Ruta" auch am Mittwoch weiter. So gewaltig ist der Ansturm der Gäste, der nicht nur die Kneipen, sondern auch die Straßen füllt. Derzeit bearbeitet die Stadt zwei weitere Anträge für Lokale in der Gegend.

„Die Leute trinken und dann unterhalten sie sich besonders laut, lachen und kreischen", sagt Ferran Tarongi, Sprecher der Anwohner-Vereinigung Canamunt. Die freiwillige Vorverlegung der Sperrstunde von 2 auf 1 Uhr durch die Wirte hat ihn nicht besänftigt. Das Problem sei vielmehr die ständig wachsende Zahl der Kneipen. Er und seine Mitstreiter fordern von der Stadt, die Zahl der Genehmigungen mit einer Verordnung zu begrenzen, die im benachbarten Calatrava-Viertel angewandt wird. „Dort muss eine Kneipe mindestens 150 Quadratmeter groß sein, hier reichen 50 Quadratmeter."

Ein zweites Calatrava, wo die Sanierung mit reinen Wohngebäuden und eine besondere Lärmschutz-Vorschrift eine fast rund um die Uhr herrschende Grabesstille produziert hat, will aber auch Tarongi nicht. Er wünscht sich, dass vor allem mehr Geschäftsleben in sa Gerreria einzieht.

„Als hier noch alles schmuddelig war, gab es viel mehr Geschäfte und Werkstätten. Die Nutten haben nicht gestört", erinnert sich Lorenzo Juan Sabater, dessen Familie seit 60 Jahren den Elektronik-Laden Eléctrica Ibero América in der Carrer Ferreria betreibt, einer der wenigen weiter bestehenden alt eingesessenen Läden in Sa Gerreria. So schnell die Bars kamen, so langsam geht die Wiederbelebung durch neue Anwohner und Geschäftsleute voran. „Hier stehen weiterhin viele Wohnungen leer", sagt der Inhaber des Haushaltswarenladens Serra Comercial Menaje, der selbst in den 80er Jahren aus dem Viertel wegzog, weil es zu ungemütlich geworden war.

An der neu geschaffenen Plaza Nova de Flassaders sind in dem 2008 fertig gestellten Komplex S´Estel Nou mit mehr als 300 Wohnungen und mehr als 50 Ladenlokalen zwar rund 75 Prozent der Wohnungen verkauft, aber kein einziges Ladenlokal vermietet. „Obwohl es Angebote gibt, das erste halbe Jahr gratis zu bekommen", berichtet Miguel Angel Oliver (34), der bis vor kurzem für den Bauträger als Makler tätig war. Jetzt will er in einem der 50 leerstehenden Lokale einen Laden für Golfzubehör eröffnen, das erste Geschäft dort. Oliver glaubt weiterhin an die Zukunft von sa Gerreria. „Es liegt zentral, nah an den Avenidas, es gibt eine Tiefgarage."

Geschafft hat es bereits Magdalena Dzieciniak, die lärmgeplagte Anwohnerin. In ihrem im Dezember eröffneten Vintage-Modeladen Lula Bebop in der Carrer Coderia, der bislang lebendigsten Straße im Viertel, hat sie bereits einen festen Kundenstamm aufgebaut. Auch wegziehen will sie trotz ihrer Schlafprobleme nicht. „Ich glaube, dass sa Gerreria die besten Voraussetzungen hat, auch am Tag zu wachsen, nicht nur in der Nacht."

Vielleicht wird es aber auch nur in dem nahe zur Carrer Sindicat gelegenen Bereich, wo sich auch die meisten Bars konzentrieren, dauerhaft betriebsam. Weiter östlich, an der Carrer d´en Bosc, die zur Plaça de l´Artesania führt, wo sich jahrelang erfolglos eine Ansammlung von Kunsthandwerkerläden versuchte, wirkt das Viertel immer noch ziemlich tot – tagsüber wie nachts. In den Ladenlokalen sind jetzt Büros des städtischen Beschäftigungsförder-Instituts Imfof und kleine Kreativ-Firmen untergebracht. „Als ich hier ankam, hatte ich abends Angst", sagt Beatriz Zamora (37), die dort Anfang 2010 ihr Atelier einrichtete. Ein Jahr lang versuchte sie, ihre Stoffbroschen und -Taschen dort auch zu verkaufen, doch kaum ein Kunde entdeckte den Laden. Zamora erfand sich neu und bietet nun Schneider-Kurse an – bis sa Gerreria endlich komplett aufwacht.

In der Printausgabe vom 3. März (Nummer 565) lesen Sie außerdem:

- Neuer Name für Unió Mallorquina

- Auf Wachstumskurs: Online-Reisebüro Logitravel

- Deutscher Jugendlicher nach Sturz schwer verletzt

- "Mallorca Lifestyle": Anzeigen verkauft, aber nicht erschienen

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